Neue Wege im Rettungswesen Rettung für den Rettungsdienst? – Das Pilotprojekt "Gemeindenotfallsanitäter" zeigt erste Effekte

27. September 2023, 05:00 Uhr

Überlastete Notaufnahmen, Rettungsdienste am Limit: Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklungen nur noch beschleunigt und nun zeigt sich mehr denn je, welche Baustellen das Gesundheitssystem in Deutschland hat. Im Rettungsdienst könnte der Einsatz von Gemeindenotfallsanitätern eine Verbesserung bringen. Bei dem Pilotprojekt, das es seit einigen Monaten auch in Sachsen-Anhalt gibt, zeichnen sich erste positive Entwicklungen ab. So werden zum Beispiel die vorgegebenen Fahrzeiten öfter eingehalten.

Hilfsfrist innerhalb von zwei Monaten stark verbessert

In Sachsen-Anhalt darf ein Rettungswagen von der Alarmierung bis zum Patienten in der Regel nicht länger als zwölf Minuten brauchen. Das ist die sogenannte Hilfsfrist. Diese Zeit sollte in 95 Prozent der Fälle eingehalten werden. Im Juni lag der Anteil im Landkreis Wittenberg jedoch nur bei 65 Prozent. Seit Beginn des Pilotprojektes "Gemeindenotfallsanitäter" im Juli 2023 konnte diese Zahl aber auf 80 Prozent gesteigert werden. Dabei handelt es sich allerdings um eine Momentaufnahme. Für eine allgemeingültige Bilanz ist das Projekt noch zu jung.

Der Landrat des Landkreises Wittenberg, Christian Tylsch (CDU), erklärt: "Wir sind ein Flächenlandkreis und als solcher hat man immer das Problem, dass Hilfsfristen oft nicht eingehalten werden können, wegen der großen Strecken. Die Kilometerzahl ist sowieso schon eine andere als in den großen Städten, und gleichzeitig können Kaskaden entstehen."

Was sind Kaskaden? Kaskaden im Rettungsdienst entstehen, wenn ein Rettungswagen im Einsatz ist und für einen zweiten Einsatz in der Nähe Hilfe von einem anderen Rettungsdienststandort kommen muss. Diese Kettenreaktion kann sich immer weiter fortsetzen. Der Weg von der Rettungswache zum Patienten wird länger. Das kostet wertvolle Zeit und kann lebensgefährlich werden.

Kaskaden erklärt am Beispiel Gräfenhainichen 

Am Beispiel Gräfenhainichen könnte das so aussehen: Wird der Rettungswagen alarmiert, egal ob Notfall oder Fehlfahrt, ist dieser gebunden und kann keinen anderen Einsatz in der Nähe übernehmen. Der nächste Rettungswagen steht dann im knapp zehn Kilometer entfernten Oranienbaum und damit elf Minuten Fahrzeit entfernt. Ist dieser Rettungswagen aber nicht verfügbar, muss Hilfe aus Kemberg (15 Kilometer Entfernung und Fahrzeit 18 Minuten) oder Pratau (22 Kilometer Entfernung und Fahrzeit 23 Minuten) kommen. Hier hängt das Einhalten der zwölfminütigen Hilfsfrist von der Verkehrslage ab. Dazu kommt, dass der Rettungswagen dann bei Notfällen in diesen Orten möglicherweise fehlt.

Auch aus wirtschaftlicher Sicht ein Gewinn

Ein Einsatz mit dem Rettungswagen kostet im Landkreis Wittenberg aktuell rund 800 Euro. Diese Kosten werden von den Krankenkassen getragen und sind je nach Stadt oder Landkreis unterschiedlich hoch. Die Beträge werden Jahr für Jahr neu zwischen den Kostenträgern, den Kommunen und den Rettungsdienstorganisationen verhandelt. Für das aktuelle Jahr wird ein Einsatz des Gemeindenotfallsanitäters mit 400 Euro pro Einsatz abgerechnet. Das stellt eine große Kostenersparnis für die Krankenkassen und letztlich den Beitragszahler dar.

Mehr als ein Notpflaster

Rettungswagen sind für eine Notfallrettung und den Patiententransport optimiert. Bei Einsätzen mit einer Behandlung vor Ort seien diese aber nicht nötig, sagt Landrat Christian Tylsch. "Da sitzen zwei Leute drauf, ein Notfall- und ein Rettungssanitäter, das Fahrzeug selbst ist relativ teuer. Dabei kann das mit einem kleineren Fahrzeug und einer Person genauso gut abgearbeitet werden. Der Patient wird auf gleiche Weise behandelt. So spart man sinnvoll Geld, ohne dass die Qualität darunter leidet. Deshalb ist der Gemeindenotfallsanitäter – wie wir ihn jetzt hier bei uns praktizieren wollen – eine ganz sinnvolle Ergänzung und kein Notpflaster", erklärt er weiter.

Projekt in Niedersachsen verlängert

In Niedersachsen gibt es schon seit 2019 Pilotprojekte mit Gemeindenotfallsanitätern. Im Landkreis Cloppenburg zum Beispiel wurde das Projekt bis Ende 2024 verlängert. Dort hat der Gemeindenotfallsanitäter jährlich um die 2.000 Einsätze – Fahrten, bei denen ein Rettungswagen gespart wird. Würden alle diese Einsätze von einem Rettungswagen samt Besatzung übernommen werden, koste das die Krankenkassen über eine halbe Million Euro mehr im Jahr. Das ergaben MDR-Berechnungen. Durch die Hilfe vor Ort und das Ausbleiben nicht nötiger Transporte in Kliniken sorge das Pilotprojekt dort auch für eine Entlastung in den Notaufnahmen, beleuchtet Walter Rempe vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) in Cloppenburg die Vorteile. Man hoffe darauf, dass aus dem Pilotprojekt ein fester Bestandteil des Rettungsdienstes wird.

Der Gemeindenotfallsanitäter: seit diesem Sommer auch in Sachsen-Anhalt im Einsatz

Sachsen-Anhalt setzt seit dem Sommer auf den Gemeindenotfallsanitäter, um die Rettungsdienste zu entlasten. Neben dem Landkreis Wittenberg testet auch der Burgenlandkreis das Pilotprojekt. Die Gemeindenotfallsanitäter kümmern sich um Menschen, die Hilfe brauchen, aber meist nicht ins Krankenhaus müssen. Damit bleibt der große Rettungswagen samt Besatzung für lebensbedrohliche Fälle frei. Die meisten der Gemeindenotfallsanitäter fahren aber übrigens auch weiterhin als Verantwortliche auf dem Rettungswagen.

Routinen müssen sich noch einspielen

Am Telefon herauszuhören, was die Patienten haben und welche Hilfe sie benötigen, ist nicht immer ganz so einfach. In der Leitstelle in Lutherstadt-Wittenberg werden alle Einsätze von Feuerwehr und Rettungsdienst koordiniert. Dort wird auch entschieden, welche Hilfe der Anrufer am Telefon braucht. Die Routine, wann der Gemeindenotfallsanitäter alarmiert wird, muss sich dabei noch weiter einspielen. Trotzdem zeigt sich schon ein erster Effekt: Nur in jedem dritten Fall, in dem ein Gemeindenotfallsanitäter vor Ort war, musste ein Rettungswagen nachalarmiert und der Patient ins Krankenhaus gebracht werden. In allen anderen Fällen war eine Versorgung zuhause ausreichend oder die Personen konnten auf anderen Wegen zum Arzt oder in eine Klinik kommen. Dennoch: Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen fährt auch weiterhin ein Rettungswagen und wenn nötig auch ein Notarzt los.

In Gräfenhainichen wird der Gemeindenotfallsanitäter vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) gestellt. Fünf Notfallsanitäter sind für diesen Dienst verantwortlich. Besetzt ist das Auto täglich von 7 bis 19 Uhr. Im Burgenlandkreis stellt der Malteser-Hilfsdienst die acht Gemeindenotfallsanitäter. Sie sind ebenfalls täglich in 24-Stunden-Schichten für die Bevölkerung da.

Durch Gemeindenotfallsanitäter sollen Fehlfahrten vermieden werden

Dass Wittenberg für dieses Pilotprojekt ausgesucht wurde, hat mehrere Gründe. Unter anderem habe es gerade in Gräfenhainichen viele Fehleinsätze gegeben, erklärt Mario Kleinschmidt, Leiter des Rettungsdienstes des DRK im Kreisverband Wittenberg. "Dadurch wurden die Hilfsfristen nicht erfüllt", sagt er. Die Folge war, dass der Landkreis, der für den Rettungsdienst verantwortlich ist, handeln musste. Kleinschmidt erinnert sich: "Der Wunsch war zuerst, hier einen zweiten Rettungswagen zu stationieren. Dann kam der Vorschlag der Kostenträger, dass wir diesen Gemeindenotfallsanitäter ausprobieren, um Hilfsfristen zu senken und diese Fehlfahrten zu reduzieren."

Was sind Fehlfahrten? Der Rettungsdienst ist in erster Linie für lebensbedrohliche Erkrankungen und Verletzungen zuständig. Damit einher geht in der Theorie immer ein Transport in ein Krankenhaus. Eine Behandlung vor Ort gehört nicht zu den originären Aufgaben des Rettungsdienstes und ist auch gesetzlich nicht vorgesehen. Wird ein Patient nicht in eine Klinik transportiert, handelt es sich um eine Fehlfahrt.

Die Definition gilt für Sachsen-Anhalt und kann in anderen Bundesländern abweichen.

Im Landkreis Wittenberg waren im vergangenen Jahr über 18 Prozent der Einsätze solche Fehlfahrten. 2019 lag die Zahl noch bei knapp über elf Prozent. Deshalb musste gehandelt werden.

Rettungswagen müssen immer öfter ausrücken

Die Einsatzzahlen der Rettungsdienste in Deutschland steigen seit Jahren kontinuierlich an. Auch Mitteldeutschland stellt hier keine Ausnahme dar. Zwar unterscheidet sich der Zuwachs von Ort zu Ort, die Richtung scheint aber klar: nach oben. Eine landes- oder gar bundesweit einheitliche Erfassung der Einsatzzahlen gibt es nicht. Die Ergebnisse einer stichprobenartigen Anfrage der MDR-Wirtschaftsredaktion bei mitteldeutschen Kommunen aber zeigt den Zuwachs auch in unserer Region.

Die älter werdende Bevölkerung ist nur einer von vielen Gründen, der diese Entwicklung befeuert. Lange Wartezeiten bei Fachärzten oder der Mangel dieser Ärzte vor allem in ländlichen Regionen sorgen dafür, dass Patienten immer häufiger bei der Notrufnummer 112 Hilfe suchen. In vielen Fällen handelt es sich aber nicht um lebensbedrohliche Fälle.

MDR (jvo)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 17. September 2023 | 19:30 Uhr

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