Studierende schreiben für den MDR Tafeln in Sachsen-Anhalt: Zwischen steigender Nachfrage und knappen Ressourcen
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22. März 2024, 19:09 Uhr
Die Arbeit der Tafeln in Sachsen-Anhalt ist unverzichtbar. Fast jeder fünfte Mensch im Land gilt als armutsgefährdet, etwa 60.000 nehmen das Angebot der Tafeln in Anspruch. Doch während die Nachfrage dort steigt, gibt es immer weniger Lebensmittelspenden und finanzielle Unterstützung. Was ein Wegfall der Tafeln bedeuten würde: Ein Gastbeitrag einer Studentin aus Halle.
Dieser Text ist im Rahmen des Projekts "Studierende schreiben" in Zusammenarbeit mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg entstanden.
- In Sachsen-Anhalt ist fast jeder fünfte Mensch von Armut betroffen. Rund 60.000 suchen Unterstützung bei den Tafeln im Land.
- Trotz ehrenamtlicher Hilfe gibt es bei den Tafeln Engpässe. Die finanzielle Unterstützung reicht kaum aus, um der Armut im Land zu begegnen.
- Ein Wegfall der Tafeln hätte weitreichende Auswirkungen – ist aber momentan keine akute Bedrohung.
Fast jeder fünfte Mensch in Sachsen-Anhalt ist von Armut betroffen. Das zeigen Daten der Statistischen Ämter von Bund und Ländern für das Jahr 2022. Mit 19,3 Prozent hat das Land demnach die dritthöchste Armutsgefährdungsquote in Deutschland. Betroffene müssen einen Großteil ihres Einkommens für grundlegende Bedürfnisse wie Lebensmittel und Unterkunft aufwenden, erklärt der Landesverband der Tafel Sachsen-Anhalt auf seiner Website.
Das lasse wenig Spielraum für soziale Teilhabe oder Extras. Frisches Obst, Gemüse, Fleisch und Milchprodukte würden zu Luxusgütern, die sich viele nicht leisten können. Eine ausgewogene Ernährung sei dadurch kaum möglich, was zu Mangelernährung und starken Gesundheitsrisiken führen könne. Betroffene hätten ein höheres Risiko für Herzkrankheiten, Diabetes, Suchtprobleme und psychische Erkrankungen wie Depressionen.
Tafeln unterstützen rund 60.000 Menschen in Sachsen-Anhalt
Organisationen wie die Tafel Sachsen-Anhalt spielen eine wichtige Rolle dabei, armutsbetroffene Menschen zu unterstützen und deren Alltag zu erleichtern. In Sachsen-Anhalt gibt es dem Landesverband zufolge 35 Tafeln mit rund 100 Ausgabestellen. Durchschnittlich werden dort demnach 60.000 Menschen im Jahr mit Lebensmitteln versorgt, darunter viele frische Waren wie Obst, Gemüse, Brot und Milchprodukte.
Viele Tafeln organisieren zudem Projekte zur Ernährungs- oder kulturellen Bildung oder zur sozialen Teilhabe für Kinder und Erwachsene, erklärt Kai-Gerrit Bädje, Gründungsmitglied der Tafel Sachsen-Anhalt. In vielen Städten würden Cafés, ein warmer Mittagstisch, Möbelhäuser und Kleiderbörsen das Angebot ergänzen.
Mehr über die Geschichte der Tafeln
Kai-Gerrit Bädje, Gründungsmitglied der Tafel Sachsen-Anhalt, berichtet im Interview über die Anfänge der Tafel in Deutschland: Die Tafel habe als Lebensmittelretter begonnen, als eine Organisation die dafür Sorge tragen möchte, dass Lebensmittel, die nicht mehr den gewünschten Verkaufsnormen entsprechen, nicht vernichtet werden. 1993 wurde die Tafel in Berlin gegründet und man begann, gerettete Lebensmittel an Obdachloseneinrichtungen zu verteilen. Damit formte sich die zweite Zielsetzung der Tafeln: Menschen, die in Armut leben mit den geretteten Lebensmitteln zu unterstützen. Mittlerweile bieten die Tafeln zusätzlich die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen und ein Stück weit aus der Isolation herauszukommen. Heute gibt es laut Tafel Deutschland mehr als 970 Tafeln, mit 60.000 aktiven Unterstützern.
Nachfrage bei den Tafeln ist deutlich gestiegen
Laut dem Dachverband haben die Tafeln im Sommer 2022 bundesweit rund zwei Millionen Menschen unterstützt – obwohl sie weniger Lebensmittelspenden erhalten und stark an ihre Grenzen stoßen. Laut dem Jahresbericht von 2022 beklagen 40 Prozent der Tafeln in Deutschland, dass ihnen helfende Hände fehlen.
Kai-Gerrit Bädje verdeutlicht, dass sich die Armutssituation verschlimmert habe und die Nachfrage bei den Tafeln in den vergangenen Jahren durch die Corona-Pandemie, den russischen Krieg gegen die Ukraine und die Inflation deutlich gestiegen sei. Laut dem Jahresbericht der Tafel Deutschland von 2019 waren es in diesem Jahr noch 1,65 Millionen Kunden.
Doch laut Bädje fehlen den Tafeln für diese Nachfrage die entsprechenden Lebensmittelmengen und die Finanzierung, trotz ehrenamtlicher Hilfe. Der Großteil der Kosten werde für den Transport der geretteten Lebensmittel aufgewendet. Die Tafeln müssten dabei wie ein normaler Lebensmittelhandel Kühlketten und Hygienevorschriften einhalten.
Tafeln müssen ihre Finanzierung selbst verwalten
Die Struktur der Tafeln ist laut Bädje sehr unterschiedlich. Sie seien eigenständige Organisationen, die für ihre Finanzierung selbst verwalten müssten. Die meisten Spenden erhalte die Tafel Sachsen-Anhalt durch die Beiträge der 35 Mitgliedstafeln, Spenden einer Lotterie, Pfandspenden von Discountern, Privatspenden und durch das Land Sachsen-Anhalt.
Kai-Gerrit Bädje kritisiert zwar, dass vom Land durchaus mehr passieren könnte, ist aber gleichzeitig erleichtert, dass es überhaupt eine Mitfinanzierung gibt. Der Landtagsabgeordnete Tobias Krull (CDU) berichtete außerdem, dass im Landeshaushalt Geld bereitgestellt wurde, um das Zentrallager der Tafel in Sachsen-Anhalt zu unterstützen, damit sie, wenn sie Großspenden bekommen, diese lagern und dann über entsprechende Fahrzeuge wie Kühltransporter, verteilen können. Diese Logistik zu bewältigen, sei eine der größten Herausforderungen der Tafel.
Die Herausforderung der Armut in Sachsen-Anhalt
Im Landtag von Sachsen-Anhalt sind die Tafeln und ihre finanzielle Ausstattung in den vergangenen Jahren immer wieder diskutiert worden, über die Grenzen der Fraktionen hinweg. Ein Abgeordneter, der sich wegen seines Amtes in der Fraktion regelmäßig mit dem Thema beschäftigt, ist Tobias Krull von der CDU. Er ist zuständig für die Bereiche Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung.
Krull erklärt, dass die Armutsgefährdungsquote in Halle (17,6 %) und Magdeburg (13,3 %) relativ hoch sei, während sie im Burgenlandkreis verhältnismäßig niedrig ausfalle. Generell würde die Armutsgefährdung immer damit zusammenhängen, wo die Menschen Bürgergeldempfänger sind, ob sie andere Sozialleistungen beziehen und wo genügend Arbeitsstellen zur Verfügung sind.
In Sachsen-Anhalt beziehen laut Recherchen von MDR SACHSEN-ANHALT knapp 130.000 Menschen Bürgergeld (Stand: Juni 2023). Das entspricht ungefähr sechs Prozent der Bevölkerung. In Halle ist der Anteil demnach besonders hoch. Obwohl die Gesamtzahl der Bürgergeldempfänger leicht gestiegen ist im Vergleich zum Vorjahr, ist seit 2019 insgesamt ein Rückgang zu verzeichnen. Bürgergeld wird nicht nur von Arbeitslosen bezogen, sondern auch von Erwerbstätigen, deren Einkommen nicht ausreicht. Knapp 18 Prozent der Bürgergeldempfänger in Sachsen-Anhalt sind erwerbstätig – mehr als jeder sechste.
Besonders von Armut betroffen sind laut Daten der Statistischen Ämter von Bund und Ländern erwerbslose Personen, von denen 71,2 Prozent in Sachsen-Anhalt als armutsgefährdet gelten. Auch Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit (58,9 %), Alleinerziehende (51,4 %) und Personen unter 18 Jahren (26,2 %) sind demnach besonders häufig von Armut gefährdet.
So wird die Armutsgefährdungsquote erhoben
Laut Statistischem Bundesamt zeigt die Armutsgefährdungsquote den Anteil der Menschen, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens (Median) der Bevölkerung beträgt. 2022 lag der Bundesmedian demnach für eine alleinstehende Person bei 1.250 Euro im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei monatlich 2.625 Euro. Man berücksichtigt dabei, dass größere Familien mehr Geld brauchen als kleinere. Diese Quote kann entweder auf nationaler Ebene (Bundesmedian) oder auf regionaler Ebene (Landesmedian) berechnet werden. Das hilft zu sehen, wie stark die Armut in verschiedenen Teilen des Landes ausgeprägt ist.
Darauf zu warten, dass sich die Quote stabilisiert gibt keine Sicherheit, sagt Tobias Krull. Er erklärt im folgenden Audio, welche verschiedenen Maßnahmen erforderlich sind, um die Armut effektiv zu bekämpfen:
Existenz der Tafeln ist nicht bedroht – aber ihre Unterstützung unerlässlich
Sollte die Tafel wegfallen – etwa durch eine zu niedrige Spendenbereitschaft, Verschärfungen gesetzlicher Regelungen zum Einsammeln und Verteilen von Lebensmitteln –, würde das für Sachsen-Anhalt erhebliche Konsequenzen bedeuten. Einen solchen Fall gab es bereits 2020 mit der Corona-Pandemie: Dem Dachverband der Tafeln zufolge mussten durch die Pandemie deutschlandweit rund 400 Tafeln schließen, eine Katastrophe für ihre Kunden.
Laut Kai-Gerrit Bädje ist eine Möglichkeit, dieser Situation entgegenzuwirken, staatliche Transferleistungen erheblich zu erhöhen, insbesondere das Bürgergeld. Er betont aber, dass Armut nicht allein auf finanzielle Engpässe reduziert werden könne: Tafelarbeit sei auch immer eine Arbeit an sozialen Kontakten, Interaktion und Teilhabe.
Auf die Frage, welche Konsequenzen entstehen, würde die Tafel wegfallen, antwortet der Landtagsabgeordnete Tobias Krull: "Das ist jetzt ein Stück weit ein, ich will nicht sagen Horrorszenario, aber es geht jetzt in diese Richtung". Die Tafelbesucher würden sich aus verschiedenen Gründen auf dieses Angebot verlassen. In einem solchen Fall müsste entschieden werden, wie mit einem Wegfall umgegangen wird. Die Frage der Finanzierung stehe dabei im Mittelpunkt. Die Frage sei, ob eine zusätzliche Unterstützung der Tafel durch Land und Kommunen den Zugang zu wichtigen Ressourcen bereitstellen würde.
Momentan ist die Existenz der Tafeln nicht bedroht, sagt Kai-Gerrit Bädje. Weil die Nachfrage bei der Tafel aber mit der steigenden Armutsgefährdungsquote zusammenhänge, sei es unerlässlich, sie mit finanziellen Mitteln zu versorgen. Nur so könnten bedürftige Menschen dort weiterhin Unterstützung erhalten und ihre gesellschaftliche Integration gefördert werden.
Über die Autorin Lea Büttner studiert seit Oktober 2023 Multimedia und Autorschaft im Master. Zuvor absolvierte sie ihren Bachelor in Germanistik an der Universität Leipzig. Während ihres Studiums sammelte sie wertvolle Erfahrungen durch ein Praktikum in der Redaktion von Energy Sachsen und ihren Nebenjob im Content Marketing. Neben ihrem Interesse am Schreiben und der Musik ist sie von allem Kreativen fasziniert und ist stets begeistert davon, neue Fähigkeiten zu erlernen.
MDR (Maren Wilczek)