Branchenverbände aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Nationale Solarstrategie: "Grandioser Fortschritt – bei einer desaströsen Ausgangslage"

26. Mai 2023, 08:42 Uhr

Die nationale Photovoltaik-Strategie ist vorgestellt, jetzt schreiben Verbände und andere Akteure in dem Bereich wieder Stellungnahmen zu den elf Handlungsempfehlungen. So wie schon zum ersten Entwurf, zu dem mehr als 600 eingingen. Wie sich die Branche in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen einen Wandel vorstellt. Und was inzwischen angeschoben wurde.

Vor fast einem Monat hat das Bundeswirtschaftsministerium eine Nationale Photovoltaik-Strategie vorgestellt. Darin enthalten elf Handlungsfelder von Freiflächenanlagen und Agri-PV-Anlagen bis hin zu Netzanschlüssen, Akzeptanz und Steuerrecht. Jetzt arbeiten sich gerade Branchenverbände aus dem Bereich Erneuerbare Energie durch die Papiere und bereiten Stellungnahmen vor - wie bereits nach Vorlage des ersten Entwurfs im März.

Nach der ersten Freude über die Bewegung im Bereich Solarenergie ist in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen Ernüchterung zu spüren. Denn an den zentralen Stellschrauben ist offenbar noch Luft nach oben. Zwar seien notwendige Anpassungen adressiert worden, erklärt Johannes Wolke vom Landesverband Erneuerbare Energie (LEE) Sachsen-Anhalt dem MDR, "unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen der letzten Dekade ist allerdings anzumerken, dass de facto jede Änderung automatisch eine Verbesserung darstellt." Er spricht von einem "grandiosen Fortschritt – bei einer desaströsen Ausgangslage".

Marcus Hellmund von Maxx Solar, nach eigenen Angaben eines der marktführenden Solar-Unternehmen in Thüringen, sprach von einem Quantensprung, obschon das Quantum die kleinste physikalische Einheit sei – im Vergleich zum Status Quo . "Wir sind heilfroh, dass es vorwärts geht", meint der Vorstandsvorsitzende des LEE Sachsen, Prof. Martin Maslaton, "weil es unter der anderen Regierung nicht vorwärts ging". Jetzt gehe "das Spiel los, wer macht's?", sagt er mit Blick auf das Spannungsfeld Freiflächen-Photovoltaik (PV) und Kommunen, gesetzlichen Vorgaben, deren Auslegung und auch Finanzierung.

Was passiert, wenn die Ziele nicht erreicht werden?

Aus allen drei Bundesländern kommt also ein Signal: Alles ist besser als der Ist-Zustand. Besonders klar macht das Johannes Wolke, der auf Einschnitte der vergangenen Jahre verweist: 2009 im Bereich Biomasse zum Beispiel oder 2012 in der Photovoltaik sowie 2017 bei der Windenergie. Explizit verweist er darauf, dass es sich bei der nationalen Photovoltaikstrategie lediglich um eine Absichtserklärung handelt. Für eine Umsetzung der Ziele bedürfe es aber noch konkreter Gesetze, einer konkreten Strategie. Behörden, die PV-Anlagen genehmigten, seien schließlich an ihre spezifischen Landesgesetze gebunden. Unausgesprochen in der Strategie sind Wolke zufolge auch die Folgen, wenn Ziele und Absichten nicht erreicht, wenn Fristen nicht eingehalten, Vorgaben nicht erfüllt oder Anpassungsfristen in der Landes- und Fachgesetzgebung gerissen werden.

Forderungen und Wünsche aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen

Für Mieter, Dächer und Balkone

Die Praktiker in Thüringen fordern Abrechnungssysteme für Mieterstrommodelle und umfangreiche Entbürokratisierungen von Netzanschlüssen und deren Verträglichkeitsprüfung. Außerdem die Duldung rückwärtsdrehender Zähler. Das Abrechnungssystem beim Mieterstrom und der gemeinschaftlichen Gebäudeversorgung sollte vereinfacht werden. Außerdem wünschen sie sich bei Neubauten eine größere Beachtung. Laut Bundeswirtschaftsministerium findet zum Thema Balkon-PV derzeit eine Ressortabstimmung mit dem Bundesjustizministerium statt, inzwischen wurde auch ein erster Gesetzentwurf bekannt. Dach-Photovoltaik sollte für kleine Vermieter verwaltbar gemacht und die Kostenabrechnung bei Mieterstrom dringend vereinfacht werden - so der LEE Sachsen.

Hürden bei Dach-PV und Großanlagen

Wirtschaftsvertreter aus Thüringen verweisen auf folgende Hürden bei Dach-PV, die im öffentlichen Interesse lägen und damit Vorrang hätten bezüglich Denkmalschutz, Landesbauordnungen und Sanierungssatzungen sowie auf unzureichende Handlungsanweisungen an ausführende Behörden. Sie fordern Erleichterungen bei der Anlagenzusammenfassung auf Dächern sowie Vereinfachungen bei der Garten-PV. Der LEE Sachsen fordert, die großen Industriedachanlagen sollten schnellstmöglich einspeisen können. “Da muss man nüchtern sagen, da muss man für einen gesicherten Netzzugang sorgen – und das sofort.” Hier müssten die Verteilnetzbetreiber in die Pflicht genommen werden."

Forderungen zu Netzanschlüssen

Hier wird sich unter anderem für einen vereinfachten Netzanschluss bei PV-Anlagen <10.8kWp (durchschnittliche Einfamilienhausgröße) und Fristverkürzungen für Zählertausch ausgesprochen.

Probleme bei PV-Freiflächen

Johannes Wolke vom LEE Sachsen-Anhalt macht hier Probleme sowohl für Investoren als auch privilegierte Bürgerenergiegesellschaften aus: Durch Einsprüche und Auflagen steige die Errichtungszeit der Photovoltaik-Anlagen derzeit so stark an, dass diese Gefahr laufen, extrem unwirtschaftlich zu werden. So würden Sichtgutachten angefordert oder Landschaftsgutachten, hinzu kämen Altstadtsatzungen – unabhängig vom Denkmalschutz: "Das kann Projekte so weit hinauszögern, dass es unwirtschaftlich wird. Oder das Interesse der Investoren sinkt. Denn welcher Investor erklärt sich bereit, jetzt zu investieren ohne zu wissen, wann das Projekt ans Netz geht?"

Zur Verantwortung der Kommunen

Prof. Maslaton aus Leipzig wünscht sich außerdem eine Planungspflicht der Kommunen bei der Freiflächen-Photovoltaik. "Das fehlt hier: dass man den Kommunen eine positive Planungspflicht oktroyiert. Das ist ein großes Rad und das ist ein genauso großes Rad wie Photovoltaik in der Landwirtschaft." Denn die Kommunen hätten im Rahmen von Abwägungsprozessen einfache Möglichkeiten, um Flächen durchzusetzen. Auch Johannes Wolke aus Sachsen-Anhalt sieht die Kommunen in der Verantwortung. Er plädiert aber vielmehr für Begeisterung: "Für die Stadtkassen wäre das eine sehr lukrative Quelle, weil die Aufgaben für die Kommunen werden nicht weniger werden."

Unnötige Einschränkungen bei PV an Bahn-Gleisen

Unverständnis äußert Wolke über die Einschränkung der Privilegierung von PV-Anlagen entlang von Schienen auf zweigleisige Bahnstrecken. Das sei im ländlichen Raum schwierig, weil dort Schienen häufig eingleisig seien. Die Privilegierung erstreckt sich auf einer Entfernung von bis zu 200 Metern im Außenbereich längs der Autobahnen.

Denkmalschutz

Johannes Wolke erläutert: "Die Solarstrategie gibt eine Zielstellung vor, z.B. das Zurückstellen von denkmalschutzrechtlichen Belangen. (..) Die tatsächliche Umsetzung erfolgt jedoch in den Genehmigungsbehörden, die wiederum an bundeslandspezifische Bestandsgesetze gebunden sind." So habe der Denkmalschutz in Sachsen-Anhalt einen hohen Stellenwert. Das führt Wolkes Ausführungen zufolge zu Verzögerungen bis hin zu gerichtlichen Auseinandersetzungen um das Projekt.

Was ist Standard, was Alternative und was landwirtschaftliche Bodennutzung?

Hört man den Verbänden und den Praktikern zu, dann fehlt es also an Lösungsansätzen für die praktische Umsetzung – Hellmund zum Beispiel ist für einfachere Zertifizierungsprozesse für Großanlagen. Wolke warnt vor den Gefahren zu kleinteiliger Gesetze und einem blinden Fleck im Gesamtkonstrukt, das aus seiner Sicht nicht an der grundsätzlichen Ablehnung der Anlagen für die Erneuerbare Energie rüttelt. Noch würde Erneuerbare Energie als "Zusatz" oder "Alternative" als "Nice-to-have", fossile Energie hingegen als Standard betrachtet. Dieses Verständnis muss sich Wolke zufolge wandeln. "Eine Begeisterung zum Ausbau ist absolut notwendig", sagt er, die Sichtweise auf die Erneuerbaren müsse als Standard etabliert werden. 

Und auch Prof. Maslaton aus Leipzig fordert ein grundsätzliches Umdenken: “Sollte man nicht die gesellschaftliche Diskussion eröffnen, dass die Nutzung von landwirtschaftlicher Fläche für Erneuerbare Energie eine ordnungsgemäße landwirtschaftliche Nutzung ist”, fragt er und bezieht sich damit auf Zeiten, in denen auf weiten Flächen Hafer angebaut wurde – als Futter oder eben Energiepflanze der damals wichtigsten Mobilitätsgaranten: Pferde.  

Gesetzgebungsprozess angeschoben

Ungeachtet der Paradigmenwechsel, die die Landesverbände anregen, läuft der Gesetzgebungsprozess allmählich an. Einzelne Punkte der Strategie, die Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) Anfang Mai auf dem zweiten Solargipfel vorgelegt hatte, werden bereits jetzt umgesetzt, wie eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWK) dem MDR mitteilte, zum Teil einzeln, weil die Verantwortung bei anderen Ministerien liege. "So wird der Anspruch von Mieter*innen (gegen Vermieter*innen) und Wohnungseigentümer*innen (gegen WEG) auf Zustimmung zum Betrieb einer Balkonanlage vom BMJ geregelt – hier wurde Ressortabstimmung eingeleitet."

Solarziele bis 2030 "Bis 2030 soll der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch bei 80 Prozent liegen. Die Photovoltaik soll mit einer installierten Leistung von 215 Gigawatt bis 2030 hier einen wichtigen Beitrag leisten." Robert Habeck (Grüne)

Weitere Vereinfachungen seien in einem BMWK-Gesetz geplant, in dem erste Maßnahmen aus der Solarstrategie umgesetzt werden sollen. Der entsprechende Entwurf soll noch vor der Sommerpause im Kabinett beraten werden und danach in den Bundestag. Tatsächlich berichtete die Nachrichtenagentur dpa inzwischen von einem ersten Gesetzesentwurf zu Balkonkraftwerken. Demnach sollen Mieter und Wohnungseigentümer einen Anspruch auf diese Steckersolargeräte bekommen. Anfragen beim Vermieter oder Wohnungseigentümergemeinschaften entfielen damit.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | SACHSEN-AHALT HEUTE | 24. Mai 2023 | 19:00 Uhr

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