Hintergrund Vor welchen Aufgaben die Autoindustrie steht
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18. November 2023, 05:00 Uhr
Die über Jahrzehnte verwöhnte Automobilbranche ist in Sorge: Die Zahl der Mitarbeiter sinkt, die Geschäfte entwickeln sich nicht wie erhofft, Investitionen fehlen und die Energiekrise bestimmt das Handeln – auch in Mitteldeutschland. Doch die Transformation bietet auch Chancen. Ein Überblick.
Inhalt des Artikels:
- Transformation – was ist das eigentlich?
- Größtes Problem der kleinen Zulieferer: rasch steigende Materialpreise
- Diversifizierung, Kreditmanagement und Risikotransfer
- Wo steht die sächsische Automobilindustrie?
- Wie ist die Lage der Automobilbranche in Thüringen?
- Sachsen-Anhalt: Technologie-Offenheit gefordert
Die Autobranche in Sachsen, Thüringen und in Sachsen-Anhalt ist wichtig. In allen drei Ländern arbeiten zusammen 186.000 Menschen in der Automobilindustrie, wie aus Angaben der Wirtschaftsministerien hervorgeht. Rund 95.000 sind es in Sachsen, davon 24.000 bei den fünf Autoherstellern selbst und 71.000 bei rund 780 Zulieferern. In Thüringen arbeiten rund 66.000 Menschen bei etwa 700 Unternehmen in der Automotive-Industrie. In Sachsen-Anhalt sind es rund 25.000 Menschen bei rund 280 Unternehmen – laut Wirtschaftsministerium sind das knapp 20 Prozent aller in der Industrie Beschäftigten.
Transformation – was ist das eigentlich?
Die Branche steht unter einem gewaltigen Druck, muss diverse Probleme bewältigen: Im Zentrum der Transformationsprozesse derzeit steht die EU-Entscheidung, dass ab 2035 nur noch Neuwagen mit Elektromotor zugelassen werden und die damit verbundene Umstellung auf die Produktion von E-Autos. Diese geht laut Unternehmensberatung Porsche Consulting einher mit der Digitalisierung und zunehmenden Konzentration auf Soft- statt auf Hardware – und dem Produktionsende zahlreicher Komponenten für Verbrenner.
Vom Getriebe bis zum Auspuff: Viele Teile werden nicht mehr gebraucht. Hinzu kommt Porsche Consulting zufolge die Umstellung auf klimaneutrale Wertschöpfungsketten – was, so Branchenvertreter, unter Umständen hohe Investitionen abverlange. Chinesische Anbieter drängen in den europäischen Markt, viele Lieferketten haben seit der Corona-Pandemie zudem Schwächen offenbart.
Der Kreditversicherer Allianz Trade hat einen recht konkreten Blick auf die Risiken der Branche. Diese bestehe aus einer komplexen globalen Lieferkette mit einer Vielzahl von Akteuren, und bei einigen ist das Risiko eines Zahlungsausfalls oder einer Zahlungsunfähigkeit größer als bei anderen, erläutert Rosa Hornung, Branchenverantwortliche Automobil bei dem Versicherungsunternehmen.
Mit Blick auf die Zukunft erwarten wir, dass die Spannungen in der globalen Lieferkette zwar abnehmen werden. In der Zwischenzeit müssen sich die Unternehmen jedoch weiterhin in einem komplexen und unsicheren Umfeld zurechtfinden.
Die Expertin spricht von "unterschiedlich disruptiven Kräften" entlang der automobilen Wertschöpfungskette der Zulieferer, die in sogenannte Tier-1-, -2- und -3-Zulieferer eingeteilt werden. Tier-1 liefern dem Autobauer zu, Tier-2 dem Zulieferer eins und Tier-3 dem Zulieferer zwei. "Mit Blick auf die Zukunft erwarten wir, dass die Spannungen in der globalen Lieferkette zwar abnehmen werden. In der Zwischenzeit müssen sich die Unternehmen jedoch weiterhin in einem komplexen und unsicheren Umfeld zurechtfinden."
Größtes Problem der kleinen Zulieferer: rasch steigende Materialpreise
Tier-1- und Tier-2-Zulieferern haben der Allianz-Trade-Expertin zufolge etwa Grenzschließungen oder der Mangel an Komponenten bereits finanziell zugesetzt. Die Folge: Produktionsverzögerungen und -stillstände mit Folgen für Cashflow, Budget und Planung.
Tier-3-Zulieferer sind laut Hornung hingegen oft kleiner und weniger diversifiziert – und zwar sowohl in Bezug auf die Abnehmer als auch auf die Produktionsstätten. Ihre größte Herausforderung seien rasch steigende Energie- und Materialpreise. Hinzu komme, dass sie an jährliche Preisvereinbarungen mit ihren Kunden gebunden seien und kein Alleinstellungsmerkmal hätten. Damit könnten sie diese Kostensteigerungen nur begrenzt kurzfristig weitergeben.
Diversifizierung, Kreditmanagement und Risikotransfer
Die Schlüsselfaktoren zum Eigenschutz sind nach Ansicht Hornungs: Diversifizierung, Kreditmanagement und Risikotransfer. Ein diversifiziertes Portfolio mache weniger abhängig von bestimmten Regionen, Kunden oder Lieferanten.
Bei der Absicherung und beim Risikotransfer geht es vor allem auch darum, gute Kunden zu identifizieren – solche, die auch schwierige Zeiten gut bewältigen – und diese gibt es überall entlang der Wertschöpfungskette.
Mit weniger anfälligem Cashflow könnten die Unternehmen besser auf Krisen reagieren und seien eher in der Lage, neue Chancen zu ergreifen. Hornung sagt: "Bei der Absicherung und beim Risikotransfer geht es nicht nur darum, die potenziell riskanten Geschäfte herauszufiltern, sondern vor allem auch darum, gute Kunden zu identifizieren – solche, die auch schwierige Zeiten gut bewältigen – und diese gibt es überall entlang der Wertschöpfungskette." Zum Beispiel: Vielleicht habe ein Unternehmen seine Kosten in erheblichem Umfang abgesichert oder produziere seine Energie vor Ort und sei in dieser Hinsicht vor steigenden Kosten geschützt.
Wo steht die sächsische Automobilindustrie?
Theoretisch ist sie stark: Laut sächsischem Wirtschaftsministerium gehört Sachsen mit fünf Fahrzeug- und Motorenwerken von Volkswagen, BMW und Porsche sowie rund 780 Zulieferern, Ausrüstern und Dienstleistern zu den deutschen Top-Standorten. Es ist demnach die umsatzstärkste Branche im Freistaat. Mit mehr als 95.000 Beschäftigten – davon mehr als 80 Prozent in der Zulieferindustrie – trage sie zu mehr als einem Viertel zum Industrieumsatz und zu über einem Drittel des Auslandsumsatzes bei.
Praktisch steht sie vor einem riesigen Strukturwandel: Das Wirtschaftsministerium in Sachsen spricht von einer sehr dynamischen und herausfordernden Lage. Der Grund sei "ein Zusammenwirken von Pandemiefolgen, Halbleiterkrise, Ukraine-Krieg, Energiepreissteigerungen und Angebotsdruck insbesondere chinesischer Hersteller". Auch verweist das Ministerium auf die Ziele der EU aus dem sogenannten "Fit-for-55"-Paket. Demnach dürfen in der EU ab 2035 neuzugelassene Fahrzeuge kein CO2 mehr ausstoßen. Mehr E-Autos bedeuten weniger Arbeit für all jene Zulieferer, die beispielsweise am Zubehör für Motoren und Auspuff beteiligt waren – und zugleich mehr Arbeit in Bereichen wie Batteriebau. Europaweit werde sich daher die Arbeitswelt von 14,6 Millionen Menschen ändern.
Vor welchen Aufgaben stehen die Automotive-Unternehmen in Sachsen?
Konkret in Sachsen müssen die Unternehmen laut Porsche Consulting drei Herausforderungen bewältigen: Sie müssen sich weg von Teilen für Verbrenner hin zu Komponenten für elektrische Antriebsstränge und Batteriesysteme entwickeln – mit entsprechenden Anpassungen bei Produktion und Personal. Sie müssen Lieferketten und Produktpaletten den Bedürfnissen auch der chinesischen Hersteller anpassen und sich veränderten Anforderungen insbesondere im Bereich digitaler Komponenten stellen.
Wo stehen die Unternehmen jetzt? Auf diese Frage gebe es keine pauschalen Antworten, sagte Moritz Krusch von der Porsche Consulting GmbH auf dem Branchentreffen "Automotive Forum Zwickau" Anfang November. Denn inzwischen sei nicht einmal der direkte Bezug zum Antriebsstrang entscheidend, so würden beispielsweise Außenspiegel durch Kameras ersetzt und Schlüssel durchs Handy.
Der Markt ist sehr umkämpft. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass das eine Fahrzeug ein Kassenschlager wird und darüber wird alles finanziert. Am besten habe ich mehrere Standbeine.
Es komme auf das Produkt und auf das Kundenspektrum an, darauf, ob ein Unternehmen nur beispielsweise einen Autobauer als Kunden habe oder breiter aufgestellt sei. "Nachhaltig aufgestellt ist ein Unternehmen, das über mehrere Standbeine verfügt", sagt Krusch und meint damit das Angebot von neuen und von etablierten Produkten. Auch auf der Kundenseite sei Flexibilität gut. "Der Markt ist sehr umkämpft." Man könne sich nicht darauf verlassen, dass das eine Fahrzeug ein Kassenschlager und darüber alles finanziert werde. "Am besten habe ich mehrere Standbeine."
Regionalministerium Sachsen hofft auf Innovationsschub
"Vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen aus dem Zulieferbereich werden sich massiv umstellen müssen, Produkte aufgeben und dafür neue ins Angebot nehmen, um weiter zu bestehen", sagt ein Sprecher vom sächsischen Regionalministerium. "Das kann einen enormen Innovationsschub auslösen. Vor allem die Arbeitswelt wird sich verändern; Fortbildung, Aus- und Umschulung sind Themen, die erst noch kommen."
Regionalminister Thomas Schmidt fordert von der EU daher auch angemessene Förderung. "Wenn die Kommission mit dem Green Deal Ziele vorgibt und einen Wandel der Wirtschaft auslöst, dann muss sie den Regionen auch ermöglichen, diese Ziele zu erreichen", sagt er. "Deshalb brauchen wir einen europäischen Mechanismus zur Förderung eines fairen und gerechten Wandels", so Schmidt im Oktober auf einer Tagung des Europäischen Ausschusses der Regionen.
Stecken auch Chancen in diesen Transformationsaufgaben?
Die Berater von Porsche Consulting bejahen das: "Insgesamt sollte die Branche den Wandel als Chance begreifen und sich auf Innovation, Anpassungsfähigkeit und Zusammenarbeit konzentrieren, um die Transformation erfolgreich zu bewältigen", erläuterte ein Sprecher des Beratungsunternehmens. Neue Geschäftsfelder könnten die Entwicklung grüner Technologien oder von Lösungen zur Unterstützung der CO2-Neutralitätsziele sein. Oder die Spezialisierung auf softwarebasierte Lösungen. Oder der Fokus auf Softwareentwicklung und -integration.
Wie ist die Lage der Automobilbranche in Thüringen?
Die Mobilität an sich steht vor einem weltweiten Wandel, der Technologien, Märkte und Geschäftsmodelle auch in Thüringen verändern wird: "Die Automobilbranche befindet sich im schwierigsten und tiefgreifendsten Transformationsprozess ihrer Geschichte", sagt ein Sprecher vom Thüringer Wirtschaftsministerium. Auch hier stehe der Technologie-Wechsel vom Verbrenner zum Elektroauto im Vordergrund. Aber auch das autonome Fahren oder der nachfragebedingte Rückgang der Produktionskapazitäten der großen Hersteller in Deutschland seien Themen.
Das Tempo dieser Veränderungen ist hoch und hat sich in der Folge weltwirtschaftlicher Verwerfungen, umweltrechtlicher Vorgaben sowie sich rapide ändernder Markt- und Kundenbedürfnisse aktuell weiter erhöht.
Im Wirtschaftsministerium spricht man von gewaltigen Herausforderungen. "Das Tempo dieser Veränderungen ist hoch und hat sich in der Folge weltwirtschaftlicher Verwerfungen, umweltrechtlicher Vorgaben sowie sich rapide ändernder Markt- und Kundenbedürfnisse aktuell weiter erhöht." Diese Entwicklungen überlagerten und verstärkten sich teilweise gegenseitig, so dass sich insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen im Bereich der konventionellen Antriebstechnologie einem enormen Anpassungsdruck ausgesetzt sähen. Zugleich suchen viele Firmen händeringend Fachkräfte, wie eine Studie im Auftrag des Ministeriums zeigt.
Sachsen-Anhalt: Technologie-Offenheit gefordert
Antriebswende und Digitalisierung werden auch in Sachsen-Anhalt als Treiber des Wandels im Autobau erkannt. Die damit verbundenen Veränderungen müssten vor allem von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) geleistet werden und stellten diese vor enorme Herausforderungen, schreibt ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums in Sachsen-Anhalt.
Der Sprecher verwies auf eine Stellungnahme von Wirtschaftsminister Sven Schulze im Rahmen der bereits erwähnten Tagung des Ausschusses der Regionen, in der der Minister Technologieoffenheit gefordert habe. "So können alternative Antriebe z. B. mit Hilfe von E-Fuels dabei helfen, das in Deutschland ausgeprägt vorhandene Knowhow im Verbrennerbereich weiter zu nutzen, um die CO2-Emmission in der Bestandsflotte, auch nach dem vorgesehenen Aus der Zulassung von CO2-emittierenden Neuwagen ab 2035, zu senken", sagte der Sprecher.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 18. November 2023 | 06:00 Uhr