Interview Flüchtlingshelfer: "Früher oder später überschreiten sie ihre Grenzen"
Hauptinhalt
29. Oktober 2023, 09:17 Uhr
In der Politik und in Medien wird viel über die Kapazitätsgrenzen von Flüchtlingsheimen debattiert. Doch was ist mit den Kapazitäten derjenigen, die sich um geflüchtete Menschen kümmern? Die International Psychosocial Organisation bietet kostenlose psychologische Betreuung für Leute, die in Flüchtlingsunterkünften arbeiten. Im Interview mit MDR AKTUELL sprach IPSO-Geschäftsführerin Maryam Gardisi über die Herausforderungen.
- Die gemeinnützige Organisation IPSO bietet psychologische Beratung für Geflüchtete und Flüchtlingshelfer an.
- Im Projekt "Razom" wird Flüchtlingshelfern vermittelt, wie sie ihre eigenen Grenzen erkennen und kommunizieren.
- Laut Maryam Gardisi brauchen Fachkräfte in der Flüchtlingsversorgung vor allem mehr Anerkennung.
MDR AKTUELL: Sie bieten bei IPSO eigentlich psychologische Betreuung von Geflüchteten für Geflüchtete an. Im Projekt "Razom" beraten Sie nun aber die Menschen, die hauptberuflich in Flüchtlingsunterkünften oder anderweitig mit Geflüchteten arbeiten. Wie kam es dazu?
Gardisi: IPSO bietet seit 2016 kostenlose psychosoziale Betreuung für Migranten und Migrantinnen in Deutschland an - in 20 verschiedenen Sprachen. Als der Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, haben wir schnell angefangen, dieses Angebot auch im großen Stil ukrainischen Geflüchteten zugänglich zu machen.
Dabei kam aber die Frage auf, wer sich eigentlich um all die Helfer und Helferinnen kümmert, die sich für die Geflüchteten engagieren. Wir kannten die Seite der Geflüchteten, waren uns aber sicher, dass wir noch mehr tun können. Also haben wir "Razom" ins Leben gerufen, um Ehrenamtliche, Gastfamilien und Fachkräfte in ihrem Arbeiten und Zusammenleben mit Geflüchteten zu unterstützen.
"Razom" ist übrigens Ukrainisch und heißt so viel wie "zusammen" oder "gemeinsam". Den Namen haben sich unsere ukrainischen psychologischen Beraterinnen und Kolleginnen überlegt.
Maryam Gardisi Maryam Gardisi ist selbst 1991 als Teenagerin mit ihrer Familie aus Afghanistan geflohen. Die Frage, wie Einwanderer in Deutschland integriert werden können, zieht sich wie ein roter Faden durch ihre berufliche Tätigkeit. Seit 2016 ist sie in der internationalen psychosozialen Organisation IPSO als Mitarbeiterin und seit 2020 als Geschäftsführerin tätig und hat dort für Deutschland eine neue Form psychosozialer Unterstützung von Geflüchteten durch Geflüchtete in die Wege geleitet.
Bei Ihnen arbeiten ukrainische Psychologinnen?
Ja. Viele von ihnen sind kurz nach Anfang des Krieges nach Deutschland gekommen. 28 Ukrainerinnen haben bei uns eine Weiterbildung gemacht, teilweise haben sie da noch in Asylunterkünften gelebt. Den Großteil haben wir danach auch fest angestellt und so aus den Sozialsystemen geholt.
Sie beraten jetzt Geflüchtete und Menschen, die mit Geflüchteten arbeiten. Es war so inspirierend, bei diesen Menschen den Wandel vom Flüchtling zum Helfenden mitzuerleben. Sie sind die Antwort auf einen echten Bedarf. Denn Geflüchtete effektiv psychologisch zu betreuen, ohne deren Sprache und Kultur zu kennen, ist eigentlich nicht möglich.
International Psychosocial Organisation (IPSO)
IPSO ist eine gemeinnützige humanitäre Organisation mit Sitz in Deutschland und Afghanistan, die auf Psychische Gesundheit und Psychosoziale Unterstützung (MHPSS) spezialisiert ist und über soziokulturellen Dialog Frieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert.
Die psychosozialen Berater*innen von IPSO sind in Value Based Counseling (VBC) geschult, einer psychodynamischen Kurzzeit-Intervention, die darauf ausgerichtet ist, einfühlsame und nicht wertende Unterstützung auf Augenhöhe zu bieten. Das Angebot ist in mehr als 20 Sprachen verfügbar.
International Psychosocial Organisation (IPSO)
Wer kommt denn aus der Geflüchtetenhilfe vor allem zu Ihnen?
Wir haben schnell festgestellt, dass wir vor allem Sozialarbeiter und andere Fachkräfte in den Flüchtlingsunterkünften gut erreichen können. Mit denen arbeiten wir jetzt hauptsächlich.
Wie unterstützen Sie diese Menschen?
Wir haben einen sicheren Raum geschaffen, in dem wir Gruppengespräche anbieten. Wir schulen die Leute dort in trauma-sensiblem Arbeiten, interkulturellem Verständnis und Kommunikation. Wir sprechen aber auch viel über Selbstfürsorge.
Selbstfürsorge?
Nun ja, wir haben es hier mit Fachkräften zu tun, die sich engagieren wollen, die anderen helfen wollen. Deswegen haben sie sich für diesen Beruf entschieden. Und die sehen nun jeden Tag Menschen, die sehr bedürftig sind. Das führt klassischerweise dazu, dass diese Fachkräfte ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, weniger auf sich selbst achten und so früher oder später ihre Grenzen überschreiten.
Was müssen diese Menschen in ihrem Arbeitsalltag leisten?
Sie müssen dafür sorgen, dass das Zusammenleben auf engstem Raum zwischen Menschen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen sozialen Schichten funktioniert. Das ist eine große Herausforderung. Sie müssen zunächst mal Konflikte zwischen den Bewohnern regeln, und auf Beschwerden, zum Beispiel zum Essen, reagieren. Aber auch größere Fragen: Wie organisieren wir die Neuzugänge? Wie schaffen wir es, dass die Menschen gut in der Gesellschaft ankommen? Wie helfen wir ihnen, eine Wohnung zu finden?
Der meiste Stress resultiert, glaube ich, daraus, dass die Menschen auf engstem Raum zusammenleben und dort auch jeder sein Päckchen zu tragen hat. Menschen, die ein Trauma erlebt haben, können zum Beispiel anhaltend in einem hyperaktiven Zustand oder übermäßig in Alarmbereitschaft sein. Sie können auch schneller in Stress geraten oder sind reizbar.
Deswegen schulen wir die Leute auch in trauma-sensiblem Arbeiten, damit sie wissen, wie die Zusammenhänge sind, warum sich Menschen so verhalten, wie sie es tun.
Sie zeigen den Angestellten in den Flüchtlingsunterkünften also, wie sie sich besser um die Geflüchteten kümmern können und davon ausgehend auch um sich selbst?
Genau. Es geht darum, die eigenen Grenzen einschätzen zu können und den Mut zu haben, sie zu kommunizieren. Und auch darum, offen darüber zu sein, wenn man bereits an seine Grenze gestoßen ist.
Nun dauert der Krieg in der Ukraine inzwischen schon mehr als eineinhalb Jahre an, viele Erstaufnahmeeinrichtungen sind extrem überlastet - brennen die Fachkräfte in dieser Situation nicht unweigerlich aus?
Ausbrennen ist ein hartes Wort, das würde ich so nicht sagen. Aber wir haben natürlich auch in diesem Bereich Fachkräftemangel und die Menschen, die diesen Beruf ergreifen, tun das oft aus Idealismus, was sie auch verletzlich macht. Und das vermittelt zunächst mal den Eindruck, dass sie überfordert sind.
Was brauchen diese Menschen jetzt?
Anerkennung, dafür, wie sehr sie sich engagieren und bemühen. Es ist wichtig, dass sie gesehen werden.
Wir befinden uns gesellschaftlich in einer schwierigen Situation, die wir gemeinsam bewältigen müssen. Das Narrativ von "Wir sind an einer Grenze angekommen, wir wissen nicht, ob wir das noch schaffen", das demotiviert die Leute und fördert Unzufriedenheit und eine negative Stimmung.
Dabei ist es so: Ich war letzte Woche in einer Flüchtlingsunterkunft für Menschen aus der LBGTQI+ Community. Als ich die Angestellten dort gefragt habe, was sie sich für die Geflüchteten in der Unterkunft wünschen, hat keiner gesagt: "dass weniger kommen". Sie haben gesagt, sie wünschen sich mehr Privatsphäre für die Leute, eine eigene Wohnung, eine gelungene Integration.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN – Das Sachsenradio | 26. Oktober 2023 | 18:05 Uhr
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/1b94d426-7f85-4b33-9e32-978c3e5379ab was not found on this server.