Menschen versammeln sich zum Gedenken an die Opfer und die Folgen der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 auf dem Jüdischen Friedhof in Bautzen
Wo fängt Antisemitismus an und wo hört berechtigte Kritik an der israelischen Politik auf? Entscheidend ist dabei das "Wie" der Kritik. Bildrechte: IMAGO / Steffen Unger

Antisemitismus Nicht jede Kritik an Israel ist antisemitisch

07. Dezember 2023, 06:52 Uhr

Nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel Anfang Oktober hat die israelische Armee eine militärischen Offensive im Gazastreifen gestartet. Angesichts der hohen Opferzahlen und des Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung wächst die Kritik am Vorgehen Israels. Ein Hörer von MDR AKTUELL fragt vor diesem Hintergrund, wo die Grenze zwischen berechtigter Kritik und Antisemitismus verläuft. Es kommt dabei auf Details und die konkrete Formulierung an.

Kritik an Israel darf sein – auf das "Wie" kommt es an.

Für den SPD-Bundestagsabgeordneten Helge Lindh, der Sprecher der AG Demokratie ist und früher Berichterstatter für Antisemitismus im Innenausschuss war, ist die rote Linie überschritten, wenn die Kritik sich pauschal gegen Israel oder Jüdinnen und Juden richtet: "Also, wo der Schlenker erfolgt von konkret zu benennenden Parteien wie politischen Akteuren hin zu einer Verallgemeinerung in Richtung: Der Staat Israel ist das Problem oder die Jüdinnen und Juden sind das Problem."

Zahlreiche problematische Formulierungen

Neben solchen Verallgemeinerungen kursieren noch viele andere Formulierungen, die problematisch sind. Für Lindh zählt dazu auch der Begriff "Israelkritik" selbst, denn der weise darauf hin, dass an Israel andere Standards angelegt werden als an andere Länder. Schließlich spreche man auch nicht von Syrienkritik oder Sudankritik.

Ebenfalls problematisch sei der Vergleich mit anderen Systemen. Die israelische Besatzungspolitik zu kritisieren, sei in Ordnung. Sie beispielsweise mit dem europäischen Kolonialismus gleichzusetzen dagegen nicht. Der müsse getrennt aufgearbeitet werden und nicht am Beispiel Israel.

Das Schlimmste seien für ihn aber Vergleiche mit dem Holocaust, durch die die jüdischen Opfer der Shoah herabgewürdigt werden.

Uralte Vorurteile werden immer wieder reproduziert

Punkte, die zum Teil auch Dr. Aribert Heyder anführt. Er ist Akademischer Oberrat an der Universität Marburg und forscht am Institut für Politikwissenschaft zu Einstellungen und Vorurteilen. Und Vorurteile gegen Juden hat die Geschichte schon viele hervorgebracht.

Eines der ältesten Beispiele ist die Erzählung vom Juden als Kindsmörder, die aus biblischen Überlieferungen abgeleitet wurde und die heute immer wieder anklingt, wie Heyder beobachtet. "Jedes Mal, wenn es irgendwelche gewalttätigen Konflikte gibt in Nahost zwischen Israelis und Palästinensern, werden diese archaischen Vorurteile aufgerufen."

So werde der israelischen Politik bzw. der Armee Israels dann vorgeworfen, aus Rachsucht und reiner Bösartigkeit Kinder zu töten. Ähnlich verhalte es sich mit dem Vorurteil vom geldgierigen Juden, der die Weltherrschaft an sich reißen will. Oder vom unversöhnlichen Juden, der den Deutschen immer wieder ihre Verbrechen vorhält.

In den letzten Jahren beobachte man außerdem das Phänomen, dass uralte und neuere, religiöse und säkulare Vorurteile gegen Juden auf den Staat Israel übertragen werden – sogenannter Antiisraelismus.

Versachlichung der Debatte ist möglich

Wer sich hier auskenne, könne leichter zwischen Antisemitismus und Kritik an der israelischen Politik unterschieden, sagt Heyder. "Sich eines Katalogs antisemitischer Vorurteile bewusst zu sein und sich dementsprechend auch in der Wortwahl etwas reflektierter und bewusster auszudrücken." So könne die Debatte versachlicht werden.

Das wünscht sich auch SPD-Politiker Lindh. Im Bundestag löse das Thema zwar viele Gespräche aus, manchmal aber auch deutliches Schweigen: "Diese Debatte führen wir eben oft nicht, wenn wir Papiere verfassen oder im Parlament streiten. Aber solange wir da nicht wirklich mal reinen Tisch machen und das alles intensiv aussprechen, werden wir wieder und wieder diese Debatten erleben."

Wie sprechen wir in Deutschland über Israel und Palästina? Was sind die Grundfesten? Und wo sind Linien, die nicht überschritten werden dürfen? Fragen, die geklärt werden müssten, sagt Lindh – und zwar, ohne die Rechte von Israelis und Palästinensern gegeneinander aufzurechnen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 07. Dezember 2023 | 06:21 Uhr

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