Interview Warum linke Subkulturen so anfällig für Antisemitismus sind
Hauptinhalt
16. November 2023, 08:14 Uhr
Mit pro-palästinensischen Bekundungen bei einem Klima-Protest in Amsterdam hat die Klimaaktivistin Greta Thunberg für Aufregung gesorgt. Sie skandierte mehrfach "No climate justice on occupied land" ("Keine Klimagerechtigkeit auf besetztem Land") und zog damit viel Kritik auf sich, auch von dem deutschen Teil der Klimabewegung. Der Nahost-Konflikt wird immer mehr zu einer gesellschaftlichen Frage. Und er führt zu einem Erstarken von Antisemitismus, auch in linken Bewegungen.
Interview mit Stefan Lauer Stefan Lauer ist Belltower.News-Redakteur und Co-Herausgeber des Buchs "Judenhass Underground", das sich mit dem Antisemitismus in der linken Szene und anderen Subkulturen in Deutschland beschäftigt.
MDR AKTUELL: Es gibt immer wieder antisemitische Vorfälle durch eigentlich eher politisch linke Gruppierungen. Zuletzt wurde das auch der Fridays-For-Future-Aktivistin Greta Thunberg mehrfach vorgeworfen. Warum stellen sich viele linke Bewegungen weltweit auf die palästinensische Seite?
Stefan Lauer: Ich glaube, das hat unterschiedliche Facetten. Also einmal ist es so, dass man sich generell in emanzipatorischen Bewegungen oder mehr oder weniger linken Bewegungen gerne auf die Seite der Schwächeren stellen will oder auf der richtigen Seite der Geschichte stehen will.
Da sind auf der einen Seite die Täter und auf der anderen Seite die Opfer, die Unterdrücker und die Unterdrückten. Und es ist ganz klar, dass in dieser Sichtweise die Unterdrücker Israelis und die Unterdrückten die Palästinenser sind.
Das ist aber eine einfache Antwort auf eine sehr komplexe Frage. Sie bietet die Möglichkeit, sich auf eine Seite zu stellen – ohne sich mit den Hintergründen zu beschäftigen, ohne zu überlegen, warum es Israel überhaupt gibt und warum dieser Staat entstanden ist. Man muss einfach nur irgendwie ein Hashtag auf Instagram benutzen, und schon ist man auf der richtigen Seite.
Wo Kritik am israelischen Staat aufhört und Antisemitismus beginnt
Kritik am israelischen Staat muss ja trotzdem möglich sein. Wo verläuft Ihrer Meinung nach die Grenze zwischen Kritik und Antisemitismus?
Ich finde, die Kritik an einer Regierung, einzelnen Politikern, einer politischen Entscheidung ist nicht antisemitisch. Aber wenn meine Kritik ausgeweitet wird und die Lösung meiner Kritik ist, dass Israel nicht mehr existieren darf, dann ist das antisemitisch. Der 3-D-Test kann da helfen.
Das müssen Sie erläutern.
Die drei D's stehen für Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards. Anhand dieser D's kann man Äußerungen überprüfen. Beispiel: Wenn Israel als Staat dämonisiert wird, werden dabei antisemitische Verschwörungserzählungen herangezogen, um irgendwie die Politik zu kategorisieren? Wird dem Land das Existenzrecht abgesprochen, also Delegitimierung betrieben? Oder schaut man auf Israel mit einem sehr viel strengeren und härteren Blick, als man beispielsweise auf andere Länder schaut – Stichwort doppelter Standard? Dann ist in der Regel Antisemitismus vorhanden.
Warum gibt es vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts Übergriffe und Angriffe auf Zivilisten in anderen Ländern, zum Beispiel Deutschland?
Dass Juden und Jüdinnen in Deutschland oder auch in anderen Ländern angegriffen werden, als Vertreterinnen und Vertreter von Israel ist nicht neu. Das haben wir ja schon immer. Es gab vor ein paar Jahren beispielsweise den relativ berühmten Fall in Wuppertal, wo ein Brandanschlag auf eine Synagoge ausgeübt worden ist. Und dann standen die Täter vor Gericht und das Gericht hat festgestellt, antisemitisch war das nicht – das war einfach nur eine Kritik am israelischen Staat. Also das ist natürlich ein Skandal-Urteil! Was hat diese Synagoge in Wuppertal mit den Entscheidungen von Netanjahu zu tun?
Das ist eine Eigenschaft von Antisemitismus generell. Es geht immer ein bisschen darum, Probleme zu personifizieren. Das ist die große Gefahr, weil die Personifizierung dann vor Ort stattfindet und das sind dann eben auch die Juden und Jüdinnen in Deutschland. Und die müssen dann auch darunter leiden.
Rassistische Abschiebepolitik gegen Muslime löst Antisemitismus in Deutschland nicht
Auch Muslime werden in Deutschland plötzlich anders wahrgenommen, zum Beispiel, indem ihnen kollektiv Antisemitismus vorgeworfen wird.
Ja. Ich glaube, der Blick auf Muslime, in dem Rahmen dieses Konflikts, ist noch mal eine andere Sache. Es geht da eben auch ganz stark um Rassismus. Es wird quasi behauptet: alle unterstützen das jetzt. Oder es gibt sehr starke Forderungen nach Distanzierung.
Die Politik reagiert darauf auch mit diesen Abschiebefantasien. Das kann ja auch nicht die Lösung sein! Eine rassistische Abschiebepolitik löst das Problem Antisemitismus nicht. Ich verstehe nicht, wie man da zusammenkommen will.
Steht dahinter auch die Sichtweise der Volkszugehörigkeit, die ja auch ein wichtiger Teil von Antisemitismus ist? Also, dass Menschen nicht als Bürger ihres jeweiligen Landes gesehen werden, sondern in Volkszugehörigkeiten einsortiert werden?
Ja sowieso. Also, wenn man jetzt davon spricht, dass jetzt ein Friedrich Merz und auch Olaf Scholz und so weiter fordern, dass alle Antisemiten ausgewiesen werden sollen. Dann frage ich mich schon auch, wann werden denn die Aiwangers dieses Landes ausgewiesen und die ganzen anderen Antisemiten, die sich in der Mitte der Gesellschaft bewegen? Also all das ist ja im Ganzen absurd.
Klar, man darf aber auch nicht verschweigen, dass es tatsächlich unter Muslimen in Deutschland auch Antisemitismus gibt und der ist durchaus unter Umständen höher als im Rest der Bevölkerung. Das bestätigen auch Studien. Aber das heißt nicht, dass der im Rest der Bevölkerung nicht auch stattfindet. Und sehr viele Muslime sind ja auch Deutsche. Sollen wir die jetzt abschieben? Das finde ich eine absurde Forderung. Und das ist auch eine rassistische Forderung. Stattdessen sollte man lieber in politische Bildung und in Demokratiebildung investieren, was im Moment eines der Felder ist, bei denen stark gespart werden soll.
Antisemitismus in Deutschland betrifft vor allem die Mitte
In Ihrem Buch "Judenhass Underground" geht es um Antisemitismus in linken Subkulturen. Ist der Antisemitismus in solchen Subkulturen am stärksten verankert?
Nein, es gibt Antisemitismus in progressiven Szenen und in emanzipatorischen Szenen. Aber das liegt auch daran, dass es überall Antisemitismus gibt. Den gibt es links, den gibt es rechts, aber vor allen Dingen gibt es den in der Mitte der Gesellschaft. Und das belegen ja auch immer wieder unterschiedliche Studien, wie die neue Mitte-Studie. Die macht noch einmal ganz klar und belegt, Antisemitismus betrifft nicht ausschließlich die Ränder, sondern die Mitte.
Verbreitet sich der Antisemitismus in Deutschland zunehmend oder wird er nur sichtbarer?
Es gibt schon lange Umfragen, wie die Mitte-Studie, wie die Sinus-Studie. Und immer wieder ist dort herausgekommen, dass etwa 20 Prozent der Menschen in Deutschland ein antisemitisches Weltbild haben. Man hat einfach auch in den letzten Jahren erlebt, dass die Grenze des Sagbaren verschoben worden ist.
Darüber kann man nicht sprechen, ohne die AfD zu erwähnen. Aber auch andere Bewegungen haben dazu beigetragen. Da ist auch ein Blick auf die Corona-Proteste interessant und auf Querdenken. Da war von Anfang an auch der Antisemitismus ein ganz großes Thema und es hat Antisemitismus auch noch mal salonfähig gemacht. Ich denke da an die ganzen Leute, die mit dem sogenannten Judenstern auf diesen Demonstrationen aufgetaucht sind, wo statt "Jude" "ungeimpft" draufstand, eine Relativierung der Shoah und des Holocausts.
Ich glaube, das sind alles Faktoren, die dazu beitragen, dass Antisemitismus jetzt so viel offener gelebt werden kann. Antisemitismus muss nicht mehr im Hinterzimmer bleiben. Immer mehr Leute trauen sich wieder, offen Judenhass zu äußern.
Dieses Thema im Programm: Das Erste | Brisant | 14. November 2023 | 17:15 Uhr