
Psychiatrischer Forensiker im Interview Amokfahrten: Bei Tätern häufen sich "verschiedene ungünstige Faktoren"
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15. März 2025, 07:10 Uhr
Magdeburg, München, Mannheim – in kurzer Zeit schockierten jüngst mehrere Amokfahrten die Öffentlichkeit. Finden solche extremen Gewalttaten immer häufiger statt? Was bringt Menschen zu solchen Amokläufen? Und was kann getan werden, um diese Taten zu unterbinden? Der forensische Psychologe und Psychotherapeut Jérôme Endrass gibt Antworten.
- Weltpolitische Ereignisse können Auslöser für eine Häufung von Attentaten und Gewaltstraftaten sein.
- Neben psychischen Erkrankungen sind auch Persönlichkeitsstruktur und Perspektivlosigkeit Faktoren, die bei Menschen wirken, die solche Taten begehen.
- Damit Anschläge und Amokläufe verhindert werden können, braucht es überbehördliche Zusammenarbeit.
MDR AKTUELL: Gibt es eine Zunahme bei extremen Gewalttaten, wie den Amokfahrten und Amokläufen in Magdeburg, München oder Mannheim?
Jérôme Endrass: Über einen längeren Zeitraum betrachtet, lassen sich bei der Häufigkeit solcher Ereignisse Wellenbewegungen feststellen. Es gibt Phasen, da sind solche Attentate oder Gewaltstraftaten häufiger zu verzeichnen, und dann gibt es Phasen, wo es etwas ruhiger ist. Tatsächlich befinden wir uns gegenwärtig in einer Phase, wo mehr passiert. Dadurch entsteht der Eindruck, es wird alles schlimmer und es besteht die Sorge, es könnte noch weiter eskalieren. Langfristig betrachtet gibt es jedoch Grund zur Annahme, dass es sich wieder beruhigen kann. Es stellt sich die Frage, welche äußeren Faktoren zu beobachteten Häufung führen. Hier finden wir Zusammenhänge zur Zeitgeschichte, zur Weltpolitik, die möglicherweise Auslöser sein können. Aber genau wissen wir das nicht.
Zur Person Jérôme Endrass ist forensischer Psychologe und Psychotherapeut. Er forscht und lehrt an den Universitäten Konstanz und Basel zur Risikoeinschätzung von Gewalt- und Sexualstraftätern, insbesondere mit Blick auf extremistische Gewalt und Amoktaten. Der Schweizer hat mehrere Fachbücher zum Thema geschrieben und mehr als einhundert Aufsätze in Fachzeitschriften veröffentlicht.
Welche zeitgeschichtlichen Ereignisse sind das, die sie ansprechen?
Für extremistische Gewalt spielte zum Beispiel der Bürgerkrieg in Syrien eine große Rolle. Der Krieg ging mit einer massiven Zunahme islamistisch motivierter Gewaltstraftaten einher. Nach dem Krieg nahmen entsprechende Gewaltdelikte wieder ab. Man konnte auch sehen, dass Reichsbürger beziehungsweise Personen, die staatliche Autorität ablehnen, seit Corona häufiger als problematische Personengruppe wahrgenommen werden. Durch die Maßnahmen, die während der Pandemie beschlossen wurden, fühlten sich diese Personen aufgefordert, sich dagegen aufzulehnen – und gleich noch den Staat als Ganzes abzulehnen.
Wenn man sich all diese Phänomene ansieht, gibt es in unterschiedlichen Lagern Menschen mit einer gewissen Disposition für Militanz und Gewalthandlungen. Diese Menschen sind lange ruhig, bis etwas passiert, das ihnen eine vermeintliche Legitimationsgrundlage dafür gibt, die Handlungsschwelle zur Gewalt zu überschreiten.
Bei den Gewalttaten der vergangenen Monate hören wir häufig von psychischen oder psychologischen Problemen der Täter. Teilweise waren sie sogar in Behandlung. Inwieweit hängen solche Erkrankungen und der Hang zu diesen schweren Gewalttaten zusammen?
Es gibt einen relevanten Anteil an Tätern, der psychisch krank ist. Aber es ist wichtig zu betonen: Die weit überwiegende Mehrheit psychisch kranker Menschen ist friedfertig. Gewisse Diagnosen, wie zum Beispiel depressive Störungen, reduzieren sogar das Risiko für Gewalthandlungen. Wenn wir psychisch kranke Straftäter betrachten, sehen wir außerdem ein breites Spektrum verschiedener Erkrankungen, wie etwa Psychosen, Abhängigkeitserkrankungen oder Störungen der Impulskontrolle.
Es ist aber nicht so, dass wir sagen könnten, dass diese Störungen generell mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gewalttätigem Verhalten führen würden. Auch wenn gewisse Störungen forensisch relevanter als andere sind, erklären sie die extremistische Gewalt nur sehr eingeschränkt. Andererseits wäre es vermessen, das Vorliegen einer psychischen Krankheit bei der Analyse eines Falls nicht zu berücksichtigen – gerade wenn es darum geht, bei auffälligem Verhalten zu intervenieren.
Amoklauf oder Terrorismus - eine schwierige Abgrenzung
Der Begriff Amok statt aus dem Malaiischen von "Meng-âmok", was so viel bedeutet wie "in blinder Wut angreifen und töten". Bei einem Amok greift ein Täter meist unvermittelt und unprovoziert aus Sicht der Opfer eine Vielzahl von Menschen an. Der Begriff beschreibt dabei einen Prozess extrem destruktiver und oft tödlicher Gewalt, der häufig im Suizid des Täters endet.
Es gibt jedoch keine allgemeingültige Definition. Die Abgrenzung zu terroristischen Anschlägen ist schwierig. In den Fokus genommen wird hier meist das Motiv des Täters. Bei einer politischen Motivation wird häufig von Terrorismus gesprochen, bei einem persönlichen Motiv von Amoklauf. Oft ist die Motivlage aber diffus. Die Taten können aus Tätersicht sowohl persönliche als auch politische Gründe haben.
Psychische Erkrankungen und größere, äußere Ereignisse sind also zwei Faktoren, die bei Menschen wirken, die solche Taten begehen. Was sind weitere Gesichtspunkte?
Es lassen sich grob vier Fallgruppen identifizieren. Die erste Gruppe ist die mit psychischen Erkrankungen. Die zweite setzt sich aus Personen mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur zusammen. Diese Menschen haben zum Beispiel etwas Paranoides, sind wenig anschlussfähig im Sozialen oder ziehen sich sozial stark zurück, weil sie Schwierigkeiten haben, sich mit anderen Menschen oder auch Vorgaben zu arrangieren. Diese Persönlichkeitsmerkmale können so stark ausgeprägt sein, dass sie auch einen Krankheitswert haben, müssen es aber nicht.
Dann gibt es eine dritte Fallgruppe. Bei dieser lässt sich sagen, dass sie generell soziale Grenzen und Normen oder gesetzliche Vorgaben nicht einhalten kann. Diese Menschen haben eine stark ausgeprägte Dissozialität, die sich in einer chronischen Gewaltbereitschaft äußern kann. Wenn dann noch was hinzukommt, wie zum Beispiel etwas Zeitgeschichtliches oder Weltpolitisches, sind diese Personen bereit, die Schwelle zur Gewalt zu überschreiten.
Die vierte Gruppe umfasst Menschen, die ohne Perspektiven sind. Für sie ist eine extremistische Organisation und eine entsprechende Straftat oft das Einzige, was ihnen Gefühl von Selbstbestimmtheit und Sinnhaftigkeit gibt.
In den vergangenen Jahren kamen die Täter in Deutschland gehäuft aus Kriegsgebieten wie Syrien oder Afghanistan. Inwieweit sind Kriegs- oder Fluchterfahrungen auslösende Faktoren?
Kriegs- und Fluchterfahrungen können Risikofaktoren sein. Wer selbst traumatisiert ist oder selbst an Kriegshandlungen teilgenommen hat, hat eine größere Wahrscheinlichkeit, die Schwelle zur Gewalt zu überschreiten. Wobei, auch da ist es wichtig zu betonen, dass die überwiegende Mehrheit von Personen, die so etwas erlebt haben, nicht gewalttätig wird. Es ist also eine sehr kleine Gruppe, die Gewalt anwendet. Aber man darf das aus falsch verstandener Toleranz auch nicht unter den Teppich kehren. Das muss man ansprechen, insbesondere mit Blick auf die Prävention.
Bei den Tätern kommen demnach häufig viele Faktoren zusammen, etwa neben einer Fluchterfahrung noch eine Perspektivlosigkeit sowie generell eine schwierige Persönlichkeitsstruktur?
Genau so muss man es verstehen. Wenn wir uns die Attentäter anschauen, kumulieren diese viele verschiedene ungünstige Faktoren auf sich. Es ist außerdem nicht so, dass es bei allen die gleichen Faktoren sind. Während bei einem Attentäter Impulsivität, Kokainabhängigkeit und Waffenaffinität zusammenkommen, besteht bei einem anderen Attentäter das Risikoprofil aus einem psychotischen Erleben, einer traumatischen Vorbelastung und einer Perspektivlosigkeit aufgrund eines Abschiebebescheids. Wir sehen sehr viele unterschiedliche Kumulationen von Risikomerkmalen.
Sie nannten das Stichwort Prävention. Wie lassen sich diese Taten verhindern?
Wir sprechen von Bedrohungsmanagement. Hier gibt es unterschiedliche erfolgreiche Formen. Entscheidend ist, dass Bedrohungsmanagement eine Verbundaufgabe ist, die nicht von einer Behörde allein bewältigt werden kann, sondern die Zusammenarbeit unterschiedlicher Behörden erfordert. In anderen Worten: Effektives Bedrohungsmanagement braucht eine gut funktionierende überbehördliche Zusammenarbeit und entsprechend gut geschultes Personal. Auch um schnell reagieren zu können, wenn Fälle verhaltensauffälliger Personen bekannt werden. Das kann auf einer Sozialbehörde sein. Das kann in der Schule sein. Das kann in einem Krankenhaus sein. Irgendwo fällt eine Person auf und dann muss klar sein, wo dies gemeldet werden kann, wer sich mit wem austauschen kann und was zu tun ist.
Als nächstes geht es um die Intervention. Es gilt zu klären: Braucht es ein psychiatrisches Angebot, etwas Psychotherapeutisches oder eine Gefährderansprache? Oder gilt es die Person in einer schwierigen Lebenssituation zu unterstützen? Oder klare Grenzen aufzuzeigen? Es gibt unterschiedliche rehabilitative, therapeutische oder repressive Maßnahmen.
Brauchen wir eine systematische Risikobewertung von auffälligen Menschen durch die Polizei?
Es kommt drauf an, was mit systematisch gemeint ist. Wenn gemeint ist, dass jede Person, die ein bisschen auffällig ist, näher untersucht wird, wäre das wenig zielführend. Das wäre unwahrscheinlich ressourcenintensiv und am Schluss würden auch viel zu viele Personen abgeklärt. Damit einhergehend würden auch zu viele Personen fälschlicherweise als gefährlich eingestuft werden.
Aber wenn unter systematisch gemeint ist, dass dann, wenn ein gewisses Maß an Auffälligkeit da ist, diese Personen abgeklärt werden, Prozesse definiert sind, um besser intervenieren zu können – das wäre sicher sehr klug. Das gibt es jetzt schon zu großen Teilen, im Bereich zum Beispiel vom Salafismus, aber das kann man sicher weiter ausbauen und verbessern.
Ein weiterer diskutierter Ansatzpunkt ist die psychologische und psychiatrische Versorgung. Benötigen wir hier mehr Kapazitäten?
Das ist in vielen europäischen Ländern im Moment ein Problem. Es ist sicher klug, wenn in entsprechende Ressourcen investiert wird. Das wird aber nicht sehr leicht sein, weil ein großer Fachkräftemangel herrscht. Es gibt ganze Gebiete, die schon heute in der Regelversorgung psychisch kranker Menschen massiv unterversorgt sind. Neben der Nachwuchsförderung gäbe es zusätzlich die Möglichkeit, andere Berufsgruppen zu stärken, zum Beispiel in der Sozialarbeit oder Pädagogen an Schulen.
Es wäre auch gut, niedergelassene Psychotherapeuten und Psychiaterinnen für das Thema ideologisch motivierte Gewalt nochmal stärker zu sensibilisieren. Insgesamt ist die Verbesserung der psychotherapeutischen und psychiatrischen Versorgung ein Feld, das politische Priorität genießen sollte. Dabei ist klar, dass man das Problem nicht in zwei, drei Jahren lösen wird.
Hilfsangebote
Sie stecken in einer schwierigen Lebenssituation? Sie können sich Tag und Nacht an die Telefonseelsorge wenden unter der Nummer 0800 111 0 111 oder im Netz unter telefonseelsorge.de.
Sie fürchten eine Amoktat? Das Verhalten eines Bekannten, Kollegen oder Freundes beunruhigt sie? Das Beratungsnetzwerk Amokprävention, angesiedelt an der Universität Gießen, bietet kostenlose Beratung an. Telefonnummer: 0641 99 21 572
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 15. März 2025 | 06:00 Uhr