Deutsches Zentrum für Migrations- und Integrationsfoschung Neue Studie: "Wer ist hier eigentlich ostdeutsch?"
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17. Oktober 2023, 17:55 Uhr
Ostdeutsch sein ist Definitionssache. Wie hoch der Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung ausfällt, hängt davon ab, ob man Wohnort, Geburtsort, Sozialisation oder Zugehörigkeitsgefühl zugrunde legt. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) zeigt auf, zu welchen Schwankungen die verschiedenen Kriterien führen und erklärt, welche Auswirkungen dies auf die öffentliche Debatte und politisches Handeln hat.
- Der Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung liegt zwischen 16,7 und 26,1 Prozent - je nach Definition.
- Ostdeutsch-sein lässt sich anhand von Wohnort, Geburtsort, familiärem Hintergrund oder Selbst-Identifikation definieren.
- Welche Definition angelegt wird, hat direkten Einfluss auf politisches Handeln und damit auf die gesellschaftliche Teilhabe der Ostdeutschen.
Zu bestimmen wer "ostdeutsch" ist - das ist nicht so leicht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Das zeigt eine am Dienstag veröffentlichte Untersuchung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin. Die Studie "Wer ist hier ostdeutsch und wenn ja, wie viele?" zeigt auf, dass der Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung zwischen 16,7 und 26,1 Prozent schwankt - je nachdem, ob man Wohnort, Geburtsort, familiäre Sozialisation oder emotionale Selbstidentifikation als Kriterium für "Ostdeutsch-sein" zugrunde legt.
Das habe auch auf Auswirkungen darauf, wie politische Entscheidungen getroffen werden, geben die Studienautorinnen zu bedenken. "Wenn das politische Ziel ist, der Benachteiligung von Ostdeutschen entgegenzuwirken und jede vierte Führungsrolle in Deutschland von einem Ostdeutschen besetzt werden sollte, braucht es eine valide Definition dieser Ostdeutschen", sagt Naika Foroutan, DeZIM-Direktorin und Mitautorin der Studie.
Vier mögliche Definitionen des Ostdeutschen
Geht man vom Wohnort aus, wie in vielen statistischen Erhebungen üblich, leben 16,7 Prozent der Deutschen in Ost- und 83,3 Prozent in Westdeutschland. Das bildet den Studienautorinnen zufolge viele Menschen jedoch nur unzureichend ab.
So würde jemand, der von Berlin-Charlottenburg nach Berlin-Pankow zieht, von heute auf morgen als "ostdeutsch" gelten. Und Olympiasieger Eric Frenzel wäre Westdeutscher, weil er jetzt in Bayern lebt - obwohl er in Sachsen geboren und aufgewachsen ist.
Legt man nicht den Wohn-, sondern den Geburtsort zugrunde, steigt der Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung auf 20 Prozent. Am höchsten liegt der Prozentsatz, wenn man nach dem Geburtsort der Eltern geht und eine entsprechende Sozialisierung der Kinder annimmt: Dann haben etwa 26,1 Prozent der Bevölkerung einen "Osthintergrund".
Alternativ könne man auch danach gehen, ob sich Menschen mit "Osthintergrund" selbst in erster Linie als ostdeutsch beschreiben, schlagen die Forscherinnen des DeZIM vor. Das würde einen Bevölkerungsanteil von 21,6 Prozent ergeben.
Ostquote - aber wie hoch?
Relevant ist das, weil derartige Prozentzahlen auch Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Die Studienautorinnen verweisen auf Fördermaßnahmen, Gesetze und Ausgleichsregulierungen, die auf Basis solcher Zahlen eingesetzt werden. "Wir zeigen, wie wichtig die Diskussion über die zugrundeliegenden Kriterien ist, wenn wir Ungleichheiten und Benachteiligungen richtig quantifizieren", erklärt Studienleiterin Sabrina Zajak.
So wird seit Jahren immer wieder eine "Ostquote" gefordert, beispielsweise von Politikern der LINKEN wie Gregor Gysi oder Sören Pellmann. Würde eine solche Quote tatsächlich eingeführt, würde sie sich am Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung orientieren. Ob dieser 17, 20 oder 26 Prozent beträgt, hätte also direkten Einfluss auf die Teilhabemöglichkeiten der Ostdeutschen.
Es wurde dreißig Jahre darauf gewartet, dass sich das Problem der Unterrepräsentation von Ostdeutschen in gesellschaftlichen Entscheidungspositionen von alleine löst. Die Zeit des Abwartens ist vorbei.
Staatsminister Carsten Schneider, Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland, hält die empirische Forschung des DeZIM für eine wichtige Grundlage, um noch bessere Lösungen zu erarbeiten: "Es wurde dreißig Jahre darauf gewartet, dass sich das Problem der Unterrepräsentation von Ostdeutschen in gesellschaftlichen Entscheidungspositionen von alleine löst. Die Zeit des Abwartens ist vorbei. Als Bundesregierung wollen wir das aktiv ändern und haben dazu zu Beginn dieses Jahres ein Konzept beschlossen."
ÜBER DAS DEZIM-INSTITUT
Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) forscht zu Integration und Migration, zu Konsens und Konflikten, zu gesellschaftlicher Teilhabe und zu Rassismus. Es besteht aus dem DeZIM-Institut und der DeZIM-Forschungsgemeinschaft. Das DeZIM-Institut hat seinen Sitz in Berlin-Mitte. In der DeZIM-Forschungsgemeinschaft verbindet sich das DeZIM-Institut mit sieben anderen Einrichtungen, die in Deutschland zu Migration und Integration forschen. Das DeZIM wird durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert. Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung
Definitionslücken
Die Studienautorinnen weisen darauf hin, dass letztlich jede Definition ihre Lücken hat. So könne es passieren, dass Menschen, die den Großteil ihres Lebens in Ostdeutschland verbracht haben, dennoch nicht als Ostdeutsche erfasst würden, wenn der Geburtsort als zentrales Definitionsmerkmal zugrunde gelegt werde.
Ähnlich sei es mit dem "Osthintergrund". Diese Definition berücksichtige zwar, dass strukturelle Ungleichheiten oder Sozialisationserfahrungen von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Gleichzeitig sei die Relevanz von Sozialisationserfahrungen für Zuschreibungen zu einer Gruppe umstritten - so auch immer wieder im Bezug auf das Konzept des "Migrationshintergrundes".
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL RADIO | 17. Oktober 2023 | 12:00 Uhr