Wald vor Wild? Jäger kritisieren zu hohe Abschusszahlen im Namen der Waldrettung
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10. Januar 2024, 11:05 Uhr
Wildtiere, besonders Rehe und Hirsche, fressen mit Vorliebe die Triebe junger Bäume oder deren Rinde. Forstwirten ist das ein Dorn im Auge, denn die Tiere verursachen nicht nur große finanzielle Schäden, sie behindern damit auch den klimagerechten Waldumbau. Die Lösung für Forstwirtschaft und Politik in vielen Bundesländern: Intensivere Jagd, kürzere Schonzeiten, insgesamt mehr Abschüsse. Doch dagegen wehren sich die Jäger. Der Wald-Wild-Konflikt in Deutschland.
- Wildtiere richten hohe Verbissschäden an jungen Bäumen an und behindern so den klimagerechten Waldumbau.
- Forstwirtschaft und Politik setzen auf intensivere Jagd, um Schäden durch Wildtiere zu verhindern.
- Jäger wehren sich gegen verkürzte Schonzeiten und höhere Abschussvorgaben.
Dürren, Waldbrände, Schädlingsbefall – mehr als 20 Milliarden Euro Schaden sollen die Begleiterscheinungen des Klimawandels nach Schätzungen des Dachverbandes der Waldeigentümer seit 2018 in den deutschen Wäldern angerichtet haben. Umso wichtiger ist ihre Anpassung an den Klimawandel. Hunderte Millionen Euro plant der Bund daher bis 2026 für "klimaangepasstes Waldmanagement" zur Verfügung zu stellen.
Doch Jäger und Wildtier-Experten kritisieren, dass der klimagerechte Waldumbau zu Lasten der Wildtiere geschehe. Hintergrund ist eine Intensivierung der Jagd, die sich etwa in steigenden Zahlen in den Abschussplanungen und verkürzten Schonzeiten zeige. "Es gibt immer wieder den Ruf: 'Wir müssen nur mehr Hirsche schießen, dann wächst der Wald.' Aber das ist ein Irrglaube", sagt Torsten Reinwald, Biologe und Sprecher des Deutschen Jagdverbandes.
Er kritisiert, dass das Wild unter dem Vorwand des Baumschutzes immer intensiver bejagt werden soll und der Tierschutz auf der Strecke bleibe. "Der Wald ist kein Mietshaus, wo ich allen Mietern kündigen kann, um das Gebäude zu sanieren und nach zwei, drei Jahren schließe ich neue Mietverträge. Das funktioniert so nicht."
Mit höheren Abschusszahlen gegen Verbissschäden durch Wildtiere
Dass es waldbaulich Sinn ergibt, mehr Wild zu schießen, liegt an den Fressgewohnheiten der Tiere. Besonders Hirsche – dazu gehören u.a. Rotwild, Damwild und Rehwild – fressen mit Vorliebe die Triebe und Borke junger Bäume. Das macht sie zur Gefahr für den klimagerechten Waldumbau, weil sie neuen Setzlingen den Garaus machen, bevor der klimaangepasste Wald sich entwickeln kann.
Ein Problem, das auch sächsische Wälder betrifft. Im kürzlich veröffentlichten sechsten Forstbericht der sächsischen Staatsregierung heißt es, beobachtete Verbiss- und Schälschäden an den Bäumen zeigten, dass der Wildeinfluss auf die Verjüngung des Staatswaldes vielerorts zu hoch sei.
Klaus Polaczek vom Sachsenforst erklärte gegenüber MDR AKTUELL: "Wir müssen von den Fichten-dominierten Waldbeständen wegkommen." Dafür pflanze man Baumarten, die es in diesen Wäldern derzeit noch im viel zu geringen Umfang gebe: Rotbuche, Weißtanne und Bergahorn zum Beispiel. "Aber wir brauchen eine Wilddichte, die es zulässt, dass sich die Setzlinge auch zu Bäumen entwickeln", sagt der Förster. Sonst bringe man die Pflanzen nur in die Erde, damit sie hinterher aufgefressen würden, sofern man auf aufwändige Wildschutzmaßnahmen verzichten möchte.
In den Forstbetrieben ist das Mittel der Wahl für eine verträgliche Wilddichte der Abschuss. So sind die bundesweiten Abschusszahlen für Rehwild seit 2011 deutlich gestiegen.
Sachsen und Sachsen-Anhalt professionalisieren Jagd
Im Sachsenforst läuft seit April 2023 im Forstbezirk Marienberg ein Innovationsprojekt zur effektiveren Jagd. So sollen sich Jäger beispielsweise künftig für die Ansitzjagd per Messenger anmelden, Drückjagden sollen stringenter organisiert und detailliert ausgewertet werden. Zudem sollen verstärkt Wärmebildkameras zur besseren Wilddetektion bei der Jagd eingesetzt werden.
Im Landesforstbetrieb Sachsen-Anhalt plant man, die Jagd zunehmend zu professionalisieren. Dafür wurden etwa Berufsjäger eingestellt. Wolfhardt Paul, Bereichsleiter Forsteinrichtung beim Landesforstbetrieb sagte MDR AKTUELL, bei ihnen ihnen gelte klar "Wald vor Wild". Seien die Verbissschäden zu hoch, müsse man die Zahlen der Abschusspläne erhöhen.
Aber gleichzeitig gehöre das Wild in den Wald, sagt Paul. "Wir wollen eine wildtierökologisch saubere Jagd", erklärt er. Die Schonzeiten zu verkürzen, hält er daher nicht für sinnvoll. Den Vorstoß des Landesjagdverbandes im Januar keine Drückjagden mehr durchzuführen, findet er aber auch nicht zielführend. Paul zufolge muss man sich nach dem Wetter richten. "Aktuell haben wir wegen des Hochwassers auch die Jagden abgesagt. Die Tiere kämpfen schon genug ums Überleben."
Verkürzte Schonzeiten für Wild in Thüringen und Brandenburg
Auch Thüringen setzt für den Waldumbau auf eine verstärkte Bejagung. Dafür wurde bereits 2022 die Schonzeit für Rehböcke und Schmalrehe verkürzt.
Landwirtschaftsministerin Susanna Karawanskij sagte dazu: "Wir müssen nach den massiven Waldschäden der vergangenen Jahre die Wiederbewaldung noch effizienter voranbringen. Die Waldverjüngung und der Waldumbau werden zunehmend durch Wildverbiss bedroht." Deshalb habe der Forstausschuss des Landtags einer Schonzeitverkürzung zugestimmt.
Auch in Brandenburg soll eine Jagdrecht-Novelle den Abschuss von Rehwild erleichtern. So soll die Jagdzeit um zwei Wochen bis zum 31. Januar verlängert werden. Außerdem sollen Jäger zukünftig finanziell dafür aufkommen, wenn der Wildschaden an einzelnen Baumarten zu groß wird.
Genetische Verarmung von Wildtieren
Dass Hirsche und Rehe überhaupt ein Problem für den Wald darstellen, ist auch auf die zunehmende Ausbreitung des Menschen zurückzuführen. Die scheuen Tiere äsen eigentlich gern auf Wiesen, werden aber durch Straßenbau, der ihre Lebensräume zerschneidet und Erholungssuchende im Wald zunehmend unter Druck gesetzt. Sie ziehen sich immer tiefer in den Wald zurück, wo sie die Triebe junger Bäume anknabbern und die Rinde abschälen. Studien haben gezeigt, dass Hirsche weniger an Bäumen knabbern, wenn sie mehr Gräser zur Verfügung haben und sich über weite Flächen frei bewegen können.
Das Zurückdrängen des Wildes hat auch Konsequenzen für die Genetik der Tiere. In vielen Bundesländern sind nämlich zusätzlich noch sogenannte Kerngebiete definiert, in denen sich das Wild bewegen darf. Tritt es aus diesen heraus, ist es zum Abschuss freigegeben. Das hat Jäger und Forstwissenschaftler Marcus Schwarz zufolge die Konsequenz, dass sich das Wild nur noch in diesen geschützten Gebieten reproduzieren könne. "Das führt zu einer immensen genetischen Verarmung."
Schwarz bejagt selbst zwei Reviere in Sachsen und hat sich in seinem Podcast mehrfach kritisch zu den Rahmenbedingungen für die Jagd geäußert. Er hält die Abschusszahlen, die in manchen Forstbezirken angesetzt werden für zu hoch.
Deutscher Jagdverband: Alternativen zur flächendeckenden Jagd
Torsten Reinwald vom Deutschen Jagdverband versteht das Verbiss-Problem. Doch eine flächendeckende Verstärkung der Jagd ist für ihn nicht die Lösung. "Wenn wir den Jagddruck auf der gesamten Fläche und über immer längere Zeiträume erhöhen, dann wird das Wild immer heimlicher und zieht sich genau in die Bereiche zurück, wo es eigentlich nicht rein soll, weil da Deckung ist." Reinwald plädiert daher für eine konzentrierte Jagd um Aufforstungsflächen herum, bei gleichzeitiger Einrichtung von Ruhezonen für das Wild. Auch Flächen mit alternativer Nahrung wie Brombeere oder Weichhölzern wie Pappel und Birke hält er für eine gute Idee.
Auch eine Verkürzung der Schonzeiten lehnt Reinwald klar ab. "Die Aktivität von Rehen und Hirschen ist im Spätwinter am geringsten, die Leben in der Zeit auf Sparflamme." Werde dann Ende Januar ein Drückjagd durchgeführt, seien die Tiere gezwungen, ihren Stoffwechsel wieder hochzufahren. Die Konsequenz sei, dass bei den Tieren der "Treibstoff" möglicherweise nicht bis in den März reiche. "Und dann gehen sie erst recht an die jungen Bäume und knabbern an den Trieben oder schälen die Rinde."
Reinwald kritisiert zudem, dass man sich auf das Pflanzen von forstwirtschaftlich interessanten Bäumen wie Buchen und Eichen konzentriere, weil man diese gut verkaufen könne. Nach seiner Einschätzung sollten im Zuge des Waldumbaus auch Brombeeren oder Weichholz wie Birken wachsen dürfen sowie Lichtungen mit Kräutern und Gräsern entstehen, weil diese Pflanzen den Wildtieren gut schmeckten. "So könnte man den Druck von den wirtschaftlich relevanten Baumarten nehmen."
Sachsenforst: "Beim Waldumbau geht es nicht ums Geld verdienen"
Klaus Polaczek sagt, dass man das natürliche Wachsen solcher Pflanzen im Sachsenforst durchaus nutze. Er weist aber auch auf den teils verheerenden Zustand der Wälder und den Zeitdruck hin: "Es gibt in Sachsen wirklich Ecken, wo sich die Fichte komplett verabschiedet hat, wo nur Baumgerippe stehen. Wir haben kein unendliches Zeitfenster, wir müssen jetzt aktiv machen, was wir können." Das Wild werde trotzdem über viele Jahre nahezu paradiesische Verhältnisse mit viel Deckung und Äsung vorfinden.
Polaczek sagt auch, ein monetäres Interesse sei in der Forstwirtschaft zwar vorhanden, aber nicht dominant. "Den Wald, den wir schaffen, werde ich zum Beispiel nicht mehr erleben. Es geht bei Waldumbau nicht ums Geld verdienen, sondern zunächst einmal um eine Investition in eine zukunftssicheren Waldzusammensetzung."
Eine Wildtierlenkung, wie von Reinwald vorgeschlagen, fände Polaczek auch gut, zweifelt aber an der Umsetzbarkeit. "Ich glaube zum Beispiel nicht, dass man die Menschen komplett davon abhalten kann, sich in sensible Bereiche zu bewegen." Er sieht die effektive Jagd daher weiterhin als wesentliches Mittel für die Kontrolle der Wildtierpopulation.
"Ein Nahrungsmangel und strenge Winter könnten limitierend auf die Ausbreitung von Rehen und Hirschen wirken. Raubtiere wie Luchs und Wolf auch." Diese Faktoren würden in unserer Kulturlandschaft aber angesichts immer milderer Witterungsverläufe zu keiner flächendeckenden Lösung führen, so Polaczek.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 07. Januar 2024 | 06:09 Uhr