Pressefreiheit im Journalismus Dürfen Journalisten wählen?
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10. Januar 2023, 10:44 Uhr
Meinung und Bericht sind im Journalismus zu trennen. Doch was ist mit der Haltung und der politischen Überzeugung der Journalistinnen und Journalisten? Vor allem im englischsprachigen Journalismus treibt das Bemühen um "Impartiality", um Unvoreingenommenheit, manchmal seltsame Blüten. Und in Großbritannien versucht die Politik, das auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland geltende Gebot der Ausgewogenheit gegen die BBC einzusetzen.
Inhalt des Artikels:
Im April 2012 ging ein Pulitzer-Preis an Politico und die Huffington Post. Erstmals in seiner Geschichte zeichnete der renommierteste Medienpreis der USA zwei reine Online-Medien aus. War das der Beginn einer Zeitenwende? Eine Reporterin der Washington Post, die gerade in meiner damaligen Redaktion in Deutschland hospitierte, wurde um einen Meinungsbeitrag für die Medienseite gebeten: Wie schätze sie, die Journalistin aus den USA, diese Entscheidung ein? Ihre Reaktion kam prompt: "I'm a reporter. I cannot possibly do editorial": Ich bin Reporterin, ich kann unmöglich einen Kommentar schreiben. Für eine ihrer Recherchen hatte sie übrigens selbst 2008 den Pulitzer-Preis gewonnen.
Eigene Kaste der Leitartikler
Diese strikte Trennung zwischen denen, die recherchieren und berichten und denen, die kommentieren und bewerten, hat im angelsächsischen Journalismus eine lange Tradition. Die "Leader Writers" der großen Zeitungen sind eine eigene Kaste innerhalb ihrer Redaktion und schreiben nichts anderes als Leitartikel, Kommentare und meinungsstarke Analysen. Die "Reporter" im britischen oder US-amerikanischen Sinne haben dagegen neutral zu sein. Sie schreiben auch keine Reportagen. Die enthalten nach der reinen Lehre zu viel Haltung und Meinung und gehören im angelsächsischen Journalismus zum Bereich "Feature", wo so etwas erlaubt ist.
Das ist in Deutschland anders. Die Kommentierung wird zumeist und gerade denen überlassen, die ohnehin über das zu kommentierende Thema berichten. Schließlich sind sie am besten im Stoff und müssen sich nicht erst einarbeiten. Außerdem, so die deutsche Theorie, werden ihre Berichte dann ausgewogener - weil Haltung und eigene Überzeugung ja im Kommentar stattfinden. Während hierzulande also davon ausgegangen wird, dass sich diese beiden journalistischen Spielarten durchaus in ein und derselben Person ausreichend voneinander trennen lassen, setzen angelsächsische Medien lieber auf eine klare personelle Rollentrennung.
USA: Streitpunkt Wahlen
Die Debatte geht sogar noch weiter: Dürfen Journalistinnen und Journalisten überhaupt eigene politische Überzeugungen haben - und wählen gehen? "Es mag merkwürdig erscheinen, nicht an Wahlen teilzunehmen oder die eigene politische Präferenz nicht transparent zu machen. Das stimmt aber nicht. Wer Journalistin wird, gibt zu einem gewissen Grad seine Mitwirkung in der Öffentlichkeit auf, denn Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut des Journalismus", argumentierte 2008 Alicia C. Shepard vom öffentlich-rechtlichen National Public Radio (NPR) in den USA. Damit geht Shepard deutlich weiter, als es die journalistischen Ethik-Richtlinien von NPR verlangen. Doch ihre Haltung ist zumindest in den USA kein Einzelfall.
"Seit ich ein journalistischer Grünschnabel war, der über die Gemeinderatswahlen im ländlichen Virginia berichtet hat, gibt es an Wahltagen ein Ritual", so der ehemalige Politico-Chefredakteur Mike Allen: "Ich gehe zur Wahl, aber nicht um zu wählen, sondern um mit Wählerinnen und Wählern über ihre Stimmungen und Ansichten zu sprechen. Dann mache ich kehrt, ohne das Wahllokal betreten zu haben". Allen, der 2016 die Nachrichtenplattform Axios mitgründete, nennt sich selbst "Teil einer Minderheiten-Meinung", denn er glaube, "dass wir es sowohl den Menschen, über die wir berichten wie auch unseren Leserinnen und Lesern schuldig sind, bei Wahlen sozusagen 'agnostisch' zu bleiben."
Und Leonard Downie Jr., bis 2008 Chefredakteur der Washington Post, sagt zum Thema: "Ich habe zu wählen aufgehört, als ich zum Hauptentscheider darüber wurde, was in der Zeitung erscheint." Auch Colin Pope, Chefredakteur des Austin Business Journal aus Texas, geht nicht zur Wahl, "selbst wenn das Leuten komisch erscheint. (…) Ich bin ein echter, authentischer Journalist, die richtige, unvoreingenommene Sorte. Ja, es sind noch ein paar Nachrichtenmänner und -frauen übrig, die sich streng an die traditionellen journalistischen Standards halten."
Großbritannien: Angriff auf die BBC
Auch wenn es sich hier nicht um generelle Standards, sondern Einzelmeinungen handelt, unterscheidet sich das deutlich von der deutschen Haltung zum Thema. Anders sieht es bei der generellen Verpflichtung der Medien aus, ausgewogen und unparteiisch zu berichten. Hier besteht Konsens diesseits und jenseits des Atlantik, dass das Prinzip "Man höre beide Seiten" (Audiatur et Altera Pars) zu den Grundlagen des seriösen Journalismus' gehört.
Besonderes Gewicht hat dieses ungeschriebene Gesetz des Journalismus' bei öffentlich-rechtlichen Medien. Und so gehörte es von Anfang an auch zu den Grundlagen der BBC, die vor 100 Jahren erstmals auf Sendung ging und seit 1926 nach öffentlich-rechtlichen Prinzipien geführt wird. Deren "Gründungsintendant" John Reith hatte anfangs sogar erklärt: "Die BBC wird niemals etwas Kontroverses senden und hat auch nicht vor, dies zu tun." Diese Haltung erwies sich als schlecht haltbar für das neue Medium. Doch das Prinzip der Ausgewogenheit - englisch "Impartiality" - blieb.
Aber auch diese an sich sinnvolle Regel stößt an ihre Grenzen und kann politisch missbraucht werden, wie die aktuelle Debatte in Großbritannien zeigt. Hier versuchen die regierenden Konservativen, die BBC regelmäßig mit der "Neutralitäts-Keule" zu erledigen, wenn ihnen die Berichterstattung nicht passt. Jegliche Berichterstattung wird durch das Ausgewogenheits-Nadelöhr gejagt, was kritische und kontroverse Inhalte ausbremst. Der den Konservativen nahestehende BBC-Chef Tim Davie setzt zudem ein sehr formalistisches Programm im Zeichen der "Ausgewogenheit" um, dass nach Meinung vieler BBC-Mitarbeitenden die redaktionelle Unabhängigkeit beschneidet und zu einseitig auf die Vorwürfe von konservativer Seite, die BBC berichte zu linksliberal, eingeht. Befeuert wurde dies im Sommer noch von einer aktuellen Studie der britischen Medienaufsichtsbehörde Ofcom, die der BBC Schwierigkeiten mit der sogenannten "Impartiality" bescheinigt. Ofcom wird seit Mai von Michael Grade geleitet, der zuvor für die Konservativen im britischen Oberhaus saß. "Die BBC kommt ihrer Verpflichtung zur Ausgewogenheit nicht nach", so die verkürzte Darstellung der Studie in der konservativen Presse. Tatsächlich heißt es in der Untersuchung, viele Menschen bewerteten alle Inhalte und Ansichten, die ihrer eigenen Meinung widersprächen, als unausgewogen. Mehr und mehr Top-Journalistinnen und -Journalisten haben die BBC mittlerweile verlassen. Star-Interviewer Andrew Marr, der lange auch Politik-Chef des Senders war, arbeitet seit März beim privaten Talk-Radio LBC. Und Lewis Goodhall, Redaktionsleiter des investigativen Nachrichtenmagazins Newsnight, nannte dem Guardian als Grund für seinen geplanten Abgang den steigenden Druck von außen auf die Berichterstattung.