24.02.1921 Der Aufstand der Kronstädter Matrosen – das Ende der Revolution?
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14. November 2022, 14:50 Uhr
Wenige Jahre nach der Oktoberrevolution haben die bolschwistischen Machthaber viele Anhänger gründlich enttäuscht. Unzufriedenheit gärte im Volk, auch bei den Matrosen von Kronstadt, der einstigen Speerspitze des Umsturzes von 1917. 1921 ließen eben jene Bolschewiki die Proteste der Matrosen von Kronstadt blutig niedergeschlagen - die einstigen Kampfgenossen hatten die Verwirklichung der Ideale der Oktoberrevolution gefordert. Am 24. Februar 1921, kam es zu den ersten Protesten.
Die Matrosen von Kronstadt, einer Festung im Finnischen Meerbusen nahe Petrograd (St. Petersburg), waren die Avantgarde der Revolution, die Elitetruppe des Roten Oktobers 1917. Sie hatten den Bolschewiki maßgeblich mit zum Sieg verholfen. "Schönheit und Stolz der Oktoberrevolution", pries Leo Trotzki, der Organisator der Oktoberrevolution, "seine" Kronstädter Matrosen. Keine vier Jahre später, im Winter 1921, drohte Leo Trotzki (mittlerweile Oberbefehlshaber der Roten Armee) seinen Matrosen, sie "wie Hasen abknallen" zu lassen, wenn sie sich nicht sofort seinem Willen beugen würden. Was war geschehen?
Revolution und Bürgerkrieg: "Russland in Blut gewaschen"
1921 liegen vier Jahre Bürgerkrieg hinter Russland, roter Terror, weißer Terror, das riesige Reich ist tatsächlich "in Blut gewaschen" (Artjom Wessjoly). Die Bevölkerung sehnt sich nach Frieden. Und auch nach den über die Jahre irgendwo auf der Strecke gebliebenen Idealen des Roten Oktobers 1917: Freiheit, Selbstbestimmung, Demokratie von unten. Stattdessen regieren die Bolschewiki Russland diktatorisch und im Stile eines Kriegskommunismus.
Dagegen formiert sich im Winter 1921 überall im Land zunächst zaghafter, dann aber doch deutlich vernehmbarer Protest. Mitglieder der Kommunistischen Partei zerreißen ihre Parteidokumente, es gibt Protestdemonstrationen und Streiks. In Petrograd gehen sogar die Matrosen des legendären Kreuzers "Aurora" von Bord, um sich den Demonstranten anzuschließen. Die gesamte Szenerie erinnert an den Februar 1917 - nur mit dem Unterschied, dass jetzt nicht der Sturz des Zarenreichs gefordert wird, sondern der Rücktritt der Regierung Lenins.
Aufruhr auch in Kronstadt
Auch die Stimmung unter den stolzen Kronstädter Matrosen war alles andere als euphorisch. Tagebücher und Briefe von Kronstädter Matrosen belegen, wie sich die Stimmung der Matrosen bereits seit Jahren verdüstert hatte, wie die Hoffnung zunehmender Verzweiflung gewichen war.
Am 28. Februar 1921 kehrte eine Abordnung Matrosen, die zur Erkundung der Lage nach Petrograd entsandt worden war, auf die Festungsinsel zurück. Nachdem sie von den Demonstrationen und Streiks berichtet hatte, beriefen die Matrosen umgehend eine Versammlung ein. Die Matrosen erstellten noch in der Nacht einen Forderungskatalog: "Freie Wahlen! Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit für Arbeiter und Bauern!" sowie "gleiche Rationen für alle Werktätigen" und "Freiheit für die Bauern!".
Ziel der Kronstädter Matrosen war eine "dritte Revolution" (nach Februar- und Oktoberrevolution im Jahr 1917), die "die letzten Ketten von den werktätigen Massen nehmen" sollte. "Die Arbeiter und Bauern schreiten unaufhaltsam voran, sie lassen die bürgerliche Ordnung ebenso hinter sich wie die Diktatur der Kommunistischen Partei mit ihrer Tscheka und dem Staatskapitalismus, der sich wie eine Todesschlinge um den Hals der werktätigen Massen legte und sie endgültig zu erwürgen drohte", schrieben sie in einem Aufruf.
Kronstädter Matrosen: Söhne von Kleinbürgern und Kulaken?
Für die Bolschewiki war der Forderungskatalog der Matrosen nichts weniger als ein Aufruf zum Staatsstreich. Die Forderungen der Matrosen seien, so postulierten Lenin und Trotzki umgehend, antisozialistisch und würden die Errungenschaften der Revolution insgesamt in Frage stellen. Sie seien also eigentlich staatsfeindlich.
Den Stimmungsumschwung der Kronstädter Matrosen erklärten Trotzki und Lenin in der Öffentlichkeit damit, dass die Matrosen von 1921 mit denen von 1917 nichts mehr gemein hätten. Die Mannschaften seien in den vergangenen vier Jahren fast vollständig ausgetauscht worden. 1917 seien die Kronstädter Matrosen die Söhne von Bauern und Arbeitern gewesen, die heutigen Matrosen hingegen Abkömmlinge von Kleinbürgern und Kulaken. Tatsächlich aber waren die meisten Matrosen, die die Erfüllung der Ideale des Roten Oktobers einforderten, bereits 1917 dabei gewesen. Einen Austausch der Mannschaft, wie Lenin und Trotzki darstellten, hat es in Wirklichkeit nie gegeben.
Angriff der Regierungstruppen im Schneesturm
Am 7. März 1921 begann auf Befehl Trotzkis der Angriff auf die Festung Kronstadt, in der sich die etwa 10.000 Matrosen verschanzt hatten, mit einem stundenlangen Infanteriebeschuss. Am nächsten Tag unternahmen Truppen unter General Tuchatschewski einen Angriff. Durch dichtes Schneetreiben kämpften sie sich acht Kilometer über die vereiste See. Die Kronstädter Matrosen jedoch feuerten unentwegt aus ihren schweren Geschützen. Das Eis brach und hunderte Rotarmisten ertranken. Der Angriff wurde abgebrochen.
Die Matrosen wähnten sich bereits als Sieger - sie bereiteten die Wahlen für die neuen und wirklich demokratischen "Arbeiter- und Soldaten-Räte" vor. Doch die Wahl-Vorbereitungen mussten abgebrochen werden. Am 16. März 1921 ließen die Bolschewiki die Festung mit Artilleriefeuer und Bomben beschießen. Am nächsten Tag stürmten 50.000 Rotarmisten. 20 Stunden dauerte die Schlacht, dann ergaben sich die Kronstädter Matrosen der Übermacht des Gegners. 8.000 Matrosen konnten über den vereisten Meerbusen nach Finnland entkommen. 2.500 Kronstädter Rebellen jedoch wurden gefangen genommen und standrechtlich erschossen. Der Traum von einer "dritten Revolution", die "die letzten Ketten von den werktätigen Massen nehmen" sollte, war ausgeträumt.
Trotzki weint
Die Bolschewiki hatten nach der Niederschlagung des Aufstandes der Kronstädter Matrosen, die nichts anderes gefordert hatten, als die Bolschewiki im Oktober 1917, ihr wahres Wesen gezeigt. Darüber sind sich die Historiker einig. Von nun an war klar, es würde den Bolschewiki nur noch um Machterhaltung um jeden Preis gehen. Demokratie und Freiheit würden in ihrem Russland keine Rolle mehr spielen. Die Niederschlagung des Aufstands der Kronstädter Matrosen symbolisiert daher den Niedergang der Oktoberrevolution wie kaum ein anderes Ereignis. Es war, wie der Revolutionsforscher Prof. Dr. Helmut Bock schrieb, "die Ursünde der bolschewistischen Revolution".
Leo Trotzki soll, nachdem ihm die Nachricht von der Niederlage der Matrosen überbracht worden war, geschluchzt haben: "Ach, meine Kronstädter Matrosen..."
(SL)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt | 24. Juni 2020 | 20:15 Uhr