Russland: Eine Geschichte, die noch qualmt
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04. März 2017, 05:00 Uhr
Bei der Februarrevolution 1917 bot sich für Russland die Chance für eine demokratische Entwicklung. Wie geht Kremlchef Putin mit dem Gedenken an das Ereignis um? Ein Interview mit Historiker Jürgen Zarusky.
Wie geht Russland heute mit der Februar- und Oktoberrevolution von 1917 um?
Der Umgang mit der Geschichte der Revolution ist heute natürlich anders als zu Zeiten der Sowjetunion, wo der Jahrestag der Oktoberrevolution ein offizieller Festtag war. Seit 1996 wird er als "Tag der Einheit und Versöhnung" begangen.
Im Jahr 2005 wurde der Feiertag vom 7. auf den 4. November verlegt, das Datum der Vertreibung polnischer Invasoren aus Moskau durch eine Volkserhebung im Jahr 1612. Das will der Kreml auch mit dem Feiertag propagieren: Zusammenhalt, Abwehr ausländischer Interventionen, Stabilität. Deswegen nimmt Moskau eine sehr reservierte Haltung zum hundertjährigen Revolutions-"Jubiläum" ein. Die "Große Russländische Revolution" wird als komplizierter und teils tragischer Prozess gesehen, der von der Februarrevolution bis zum Ende des Bürgerkriegs 1921/22 datiert wird.
Gegenwärtig nimmt die Diskussion über 1917 richtig Fahrt auf, die meisten Veranstaltungen stehen erst bevor. Ob sich daraus eine breitere gesellschaftliche oder gar internationale Diskussion entwickelt, bleibt abzuwarten.
Februarrevolution 1917 Mit der Februarrevolution 1917 endete die Herrschaft der Zaren in Russland. Zwar wird sie Februarrevolution genannt, doch nach dem Gregorianischen Kalender fand sie ab dem 8. März 1917 statt. Bis 1918 galt in Russland noch ein anderer Kalender.
Nimmt der Kreml eine klare Haltung zu diesen Ereignissen ein?
In einer Rede vor der russischen Föderationsversammlung hat Präsident Wladimir Putin im Dezember 2016 die Richtung vorgegeben: Die Lehren aus der Revolution müssten "zur Versöhnung, zur Stärkung der gesellschaftlichen, politischen und bürgerlichen Einheit" führen, die im heutigen Russland erreicht seien. Die Spaltungen und Gegensätze der Vergangenheit dürften in der Gegenwart keine Rolle mehr spielen.
Die Russische Historische Gesellschaft wurde mit dem Gedenken an den 100. Jahrestag der Revolution beauftragt. Zur Gesellschaft gehören die Leiter einer Reihe einflussreicher historischer Institutionen in Russland. Der Vorsitzende aber kommt aus der politischen Elite: Sergej Naryschkin ist zugleich Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes. Er hat bereits erklärt, das hundertjährige Jubiläum sei kein Grund zum Feiern, sondern vielmehr zum Nachdenken.
Warum wird die Februarrevolution im offiziellen Gedenken vernachlässigt?
Um das zu verstehen, muss man sich die starke Orientierung an Staatlichkeit und Großmachtdenken vor Augen führen, die in der russischen Gesellschaft heute herrscht. Die Oktoberrevolution gilt in Russland heute trotz des folgenden Bürgerkriegs als der Ausgangspunkt für die Schaffung eines mächtigen Staates, der Sowjetunion. Die Februarrevolution hingegen setzte dem Zarenreich, das heute wieder ein hohes Identifikationspotenzial hat, ein Ende.
Die eklatanten Schwächen des zaristischen Systems werden heute oft ausgeblendet. Nach der Niederlage im russisch-japanischen Krieg wurde dem Zaren in der Revolution von 1905 unter anderem die Einrichtung der Duma abgerungen – eine Entwicklung, an die die Februarrevolution 1917 in vieler Hinsicht anknüpfte. Aber die Frage nach verpassten Chancen einer liberal-demokratischen oder freiheitlich-sozialistischen Entwicklung, die sich hier stellt, ist gegenwärtig nicht populär in Russland.
Spielt die aktuelle Angst Putins vor Umstürzen bei der Wahrnehmung der Revolutionen von 1917 eine Rolle?
Zweifellos. Aber das ist nicht das einzige. Schon in den 1990er-Jahren hat man sich unter Präsident Boris Jelzin bemüht, den jahrzehntelang in der UdSSR gepredigten Klassenkampf durch eine Einheits- und Versöhnungsgeschichte abzulösen. Es geht nicht nur um die Gegenwart, sondern auch um die Gespenster einer unbewältigten Vergangenheit. Daher ist die Geschichte der russischen Revolution eine 'Geschichte, die noch qualmt', wie die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman einmal den Begriff 'Zeitgeschichte' definiert hat.
Wie erklären Sie sich einerseits die Verehrung für die Monarchie und andererseits für Stalin?
Man kann in Moskau sowohl Stalin- als auch Zarensouvenirs finden, die nebeneinander auf dem Regal stehen. Auch in populären Geschichtsbildern stößt man auf diese ungewöhnliche Form 'friedlicher Koexistenz'. Das Großmachtdenken, die Geschichtspolitik, die eine einheitliche tausendjährige russische Geschichte propagiert, und ein unkritisches Verhältnis zur Geschichte tragen zu solchen Phänomenen bei. Das Bedenkliche dabei ist, das weder die Zaren noch Stalin die Freiheit der anderen sonderlich hoch schätzten.
Zur Person Der Historiker Jürgen Zarusky vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin ist Chefredakteur der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte.