Lenin: 100. Todestag Die Mumie vom Roten Platz
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21. Januar 2024, 05:00 Uhr
Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte, starb am 21. Januar 1924. Bis heute ist er in Moskau auf dem "Roten Platz" präsent. In seinem "Schneewittchensarg" im "Lenin-Mausoleum". Und auch wenn die von ihm initiierte Revolution über 100 Jahre zurückliegt - die Hoffnungen und alles Ungemach, die sie hervorrief, beschäftigen uns bis zum heutigen Tag.
Meine erste Begegnung mit Lenin war im Klassenzimmer in der Grundschule in Bühlau, einem kleinen Kaff, im Sächsischen. Von 300.000 in der DDR stationierten Sowjetsoldaten 'behütet'. Das war 1957. Ich war damals acht Jahre alt und Lenin hing als Foto an der Wand. Und neben ihm hingen noch Mao Tse Tung, Walter Ulbricht und Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Das Bild von Stalin hatte der Schulleiter persönlich entfernt und dabei genuschelt: "Das braucht einen neuen Rahmen." Stalin hatte ausgedient. Mir gefiel Lenin am besten. Er hatte so listige Augen und ich wäre sofort mit ihm mitgegangen.
Lenin beschäftigt uns bis heute
Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte, ist bis heute ganz zentral in Moskau auf dem "Roten Platz" präsent ist. Zumindest als konservierter Leichnam – schwer zu beschreiben und auch schwer zu fassen – denn: Auch wenn die mit ihm verbundene Revolution nun mehr als 100 Jahre zurückliegt – die Hoffnungen und alles Ungemach, die er damals bei jenem "Handgemenge" von St. Petersburg in Gang gesetzt hat, bewegen uns, ob man es nun mag oder nicht, ob man es wahr haben will oder nicht, bis zum heutigen Tage.
Das erst Mal in Moskau
Das erste Mal war ich im Herbst 1976 in Moskau und ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich schon immer mal zu Lenin in Mausoleum gewollt hätte. Das lag aber nicht an Lenin, das lag an der DDR. Die hatte es nämlich spätestens 1970, zu seinem 100. Geburtstag, fertig gebracht, mir Lenin so richtig zu vermiesen. In ihrem brüderlichen Übereifer als treueste Freunde der Sowjetunion hatte sie aus ihm einen Heiligen gemacht, und die waren mir schon immer verdächtig. Ich stand also bei Lenin an, mit einem Moskauer Eis für 19 Kopeken in der Hand, eine Stunde, zwei Stunden? Ich weiß es nicht mehr. Drei Mark Zwanzig Ost waren ein Rubel im Sozialismus.
Lange Schlange vor dem Mausoleum
Die Schlange der Wartenden war länger als vor einem Lebensmittelladen und ich dachte an den deutschen Dichter Johann Wolfgang von Goethe und das lag an Wassili. Ich hatte ihn mal 1973 im Centrum-Warenhaus auf dem Alexanderplatz in Ost-Berlin kennengelernt und der staunte nur über das Angebot im sozialistischen Vorzeige-Konsum-Tempel: "Wer hat denn nun eigentlich den Krieg gewonnen?" Wir freundeten uns an und Wassili lud mich nach Moskau ein und stand vor seiner letzten Sprachprüfung. Ausgerechnet Goethes "Faust" hatte er sich dafür ausgesucht und mir den Mausoleumsbesuch verordnet: "Viel bunte Farben, wenig Klarheit, viel Irrtum, wenig Wahrheit, so wird der beste Trunk gebraut, der alle Welt erquickt und auferbaut."
Drei Minuten bei Lenin
Mir juckte die Nase und kalt war's und ich hätte so gern einen Wodka getrunken. Ich war aufgeregt und auf den letzten Metern zu Lenin, vorbei an den scheinbar erstarrten Wachsoldaten entdeckte ich ihre blutjungen Gesichter hinter ihren Gewehren und staunte über ihre gelegentlichen Wimpernschläge mit denen sie sich als Menschen entpuppten. Dann ging es Stufen hinab, ehe man ins Dunkel einer Kammer trat und einem Lichtwechsel ausgesetzt war, der die Augen arg beanspruchte. Hinter mir schluchzte ein altes Mütterchen und ein junges Mädchen mit rotem Halstuch verneigte sich ungeschickt vor dem Genossen Lenin und ein Amerikaner kaute so schnell seinen Kaugummi, dass er sich verschluckte und vor dem Revolutionsführer zu husten begann. Ein alter Mann, vermutlich ein Kirgisier, den die Last seiner Orden immer wieder zu schaffen machte, zwinkerte dem Genossen Lenin verschmitzt zu.
"Schneewittchensarg"
Der schlief in seinem "Schneewitchensarg" aus Panzerglas und das Licht lenkte die Blicke auf die wenigen sichtbaren Körperpartien des hochverehrten Genossen, seinen Kopf und seine Hände, wobei die ungewöhnlich gelbe Tönung der Haut auffiel und ein gewisses Glitzern der dünnen rötlichen Haare seines Kinnbartes. So wie man es von Snobs kannte, die sich Brillantine ins Haar rieben. Die Zweierreihe der Besucher wurde – weil sie begreiflicherweise immer wieder stoppte – mit Gesten und leisen Weisungen der Wächter zum Weitergehen angehalten. Und drei Minuten später schon trat ich blinzelnd und etwas verdattert wieder ins kalte, grelle Licht des Roten Platzes.
Auseinandersetzung mit Lenin
In meinem Kopf war Krieg und der Zweifel an allem, was ich über Lenin widerwillig in der DDR zu mir genommen hatte, war unaufhaltsam: Dieser Lenin muss ganz anders gewesen sein, als ihn die sozialistische Propaganda angerichtet hatte: Weit entfernt von einem Menschen!
Mein Freund Wassili hatte seine Sprachprüfung natürlich mit Auszeichnung bestanden und fuhr einige Jahre später mit seinem Motorrad gegen einen sibirischen Lichtmast. Tot. Ich ging 1984 in den Westen und begann endlich, mich mit dem Genossen Lenin auseinanderzusetzen und fand daran – gelegentlich – auch Vergnügen.
Wiederkehr nach 40 Jahren
Oktober 2016. Vierzig Jahre nach meinem ersten Besuch im Mausoleum kostet ein Moskauer Eis inzwischen über 50 Rubel. Auch die Öffnungszeiten des Mausoleums haben sich verändert. Nur von Dienstag bis Donnerstag ist geöffnet. Dazu noch Sonnabend. Und nur von 10 bis 13 Uhr. Der Eintritt ist nach wie vor frei. Und die Sicherheitsmaßnahmen haben sich der Zeit angepasst.
Auf dem Roten Platz scheint die Sonne und die aufdringlichen Fotografen verlangen fünf Euro, 350 Rubel, für ein Foto mit einem lebendigen Lenin- oder Stalin-Double in Orginalkostüm und Maske. Stalin und Lenin zusammen auf einem Bild kosten natürlich mehr.
Keiner steht heute noch bei Lenin an
Heutzutage muss man keine zwei Stunden mehr vor dem vor dem Mausoleum anstehen. Trotzdem zögerte ich, den Genossen Lenin wiederzusehen, mir ging der russische Februar 1921 durch den Kopf: "Die Rote Armee schlägt den Matrosenaufstand von Kronstadt blutig nieder. Auf dem Land führt die gewaltsame Beschlagnahme der Ernteerträge im Zuge des Kriegskommunismus zu zahllosen Bauernaufständen. In Tambow werden auf Befehl Lenins 100.000 hungernde Bauern niedergemetzelt, weil sie sich weigern, ihr Getreide abzuliefern." (I. Zbarski)
Ich stehe vor dem Mausoleums-Bau aus dunkelrotem Granit und trete durch das Portal aus schwarzem Labrador-Stein ins Innere. Die über 90-jährige Leiche Lenins sieht in ihrem "Schneewitchensarg" immer noch erstaunlich gut aus und widersprechende Gefühle stellen sich bei mir ein: Staunen über eine große Idee und ihr schleichendes Ende.
Lenin ist ein Bestandteil meiner Biografie
Immerhin war und ist Lenin für mich aus Bühlau, bei Stolpen, bei Dresden, ein wesentlicher Bestandteil meiner Biografie. Von Ilja Zbarski weiß ich, dass Lenins Leiche früher in einer Uniform steckte. Jetzt trägt er ein schwarzes Jackett, Oberhemd und Schlips. Zum ersten Mal fällt mir das ZK-Abzeichen auf, das am Revers haftet. Inzwischen kommt mir sein Gesicht weniger gelb vor als damals. Die Hände hält er auf dem Leib verschränkt. Nicht gefaltet. Lagen die früher nicht seitlich neben seinem Körper? Seltsam... Beim Hinausgehen aus dem Mausoleum schaue ich mich noch einmal um. Das ist mein endgültiger Abschied von der roten Mumie, der ich endlich eine würdevolle Beisetzung im Grabe neben der Mutter und Schwester wünsche. Das Familien-Grab auf dem Friedhof "Wonkowo" in St. Petersburg gibt es nämlich noch.
Stalin leistete ganze Arbeit
Hinter dem Mausoleum werfe ich dem Genossen Stalin aus Granit noch einen Blick zu und wundere mich über seine Popularität im heutigen Russland. Von 1953 bis 1961 war der ja – ebenfalls einbalsamiert – einmal Lenins Untermieter, bevor ihn der Genosse Chruschtschow aus dem Mausoleum wieder entfernen ließ, weil der Genosse Stalin alle, die ihn in seiner Sowjetunion nicht in den Kram passten, hatte verschwinden lassen. Nach seinem Motto: "Ein Mensch – ein Problem, kein Mensch – kein Problem." Es waren Millionen.
Der Genosse Stalin hatte auch ganze Arbeit geleistet, was die Auslöschung seines Vorgängers Lenins betraf, da er ihn mit seinem "Lenin-Kult" so entmenscht und entrückt hatte, dass die Völker der Sowjetunion und vor allem die Russen, diesen Massenmörder Stalin mehr liebten und ihn – dann als Toten mehr – vermissten, als den eigentlichen Geist des "Roten Oktobers" – diesen Wladimir Iljitsch Uljanow, nach dem es keine Anführer mehr vom Grade seiner Bildung gab und der in so vielen Sprachen lesen und sprechen konnte: Russisch, Schwedisch, Deutsch, Französisch; Englisch und Polnisch.
Keiner dieser Führer, die all die Jahrzehnte später oben auf der Tribüne des Mausoleum standen und dieser einbalsamierten Lenin-Leiche quasi auf dem Kopf rumtrampelten, konnte ihm nur annähernd das Wasser reichen: Stalin, Chruschtschow und Breschnew. War dass das Gesetz dieser Doktrin? Der Abstieg der Führer ins Banale sehr schlichter Gemüter…?
1,5 Millionen Dollar Instandhaltungskosten
Die Instandhaltungskosten des toten Lenin belaufen sich - Stand 2017 - jährlich auf etwa 1,5 Millionen Dollar. Früher hat die KPdSU diese Aufwendungen getragen. Heute erledigen das primär private Sponsoren, die ihr Geld vorwiegend mit der Mumifizierung reicher toter Mafioso verdienen. Wer etwa 40.000 Dollar hinblättert, kann seine Leiche beinahe genauso schön herrichten lassen, wie die der Mumie vom "Roten Platz".
Günter Kotte, 1949 in Pirna geboren, ist Dokumentarfilmer, Regisseur sowie Hörspiel- und Feature-Autor. Er lebt in Berlin.
(Zuerst veröffentlicht am 13.09.2017)
Dieses Thema im Programm: MDR exakt | 24. Juni 2020 | 20:15 Uhr