Oktoberrevolution 1917: Der lange Weg zum Aufstand

07. November 2022, 15:53 Uhr

Im April 1917 kehrt Lenin, der Führer der kommunistischen Bolschewiki, aus seinem Schweizer Exil nach Russland zurück. Im Kopf hat er einen Plan: Die Zeit für den Umsturz, so meint er, sei reif. Doch was war der Grundgedanke des Vaters der Oktoberrevolution?

Kurz vor Mitternacht, am 3. April 1917, betritt ein spitzbärtiger Reisender im grauen Schweizer Wollmantel den Vorplatz des Finnländischen Bahnhofs in Petrograd. Verhaltener Jubel schlägt ihm entgegen. Drei- bis viertausend Menschen sind da, das milde Osterwetter und die Aussicht auf Freibier haben ihre Wirkung getan. Ganz unbekannt ist der Ankömmling, der nun vom eilig herbeigeschafften Panzerwagen atemlose Sätze spricht, den Massen nicht. Die Zeitungen sind voll von Gerüchten: Frieden will er schließen; aufhören soll der Krieg gegen die Deutschen. Den Bauern will er Boden verschaffen, den Massen Brot. Aber kennt der Fremde, nach 16 Jahren Exil, die russischen Massen? Verbindet ihn noch viel mit dem Land, das er vor so langer Zeit verließ?

Lenins Visionen: Richtung und Ziel

Lenins Ankunft in Petrograd, inmitten der turbulenten Monate zwischen bürgerlicher Februarrevolution und bolschewistischer Oktoberrevolution, ist für stalinistische Ideologen immer ein mythisch aufgeladenes Ereignis gewesen: Als hellsichtiger Messias, so hieß es, führte der "Vater des Roten Oktober" Bolschewiki und Massen auf geradem Weg zur Diktatur des Proletariats. Sein Trommeln zum Aufstand, jetzt oder nie, gab der Partei Richtung und Ziel.

Tatsächlich sind die Wege im Frühjahr und Sommer 1917 keinesfalls gerade, sondern fast unüberschaubar verschlungen. Lenin hat zu kämpfen, gegen Zweifler in den eigenen Reihen: Bolschewistischer Aufstand!? Will der Mann den politischen Selbstmord? Wo ist denn das klassenbewusste Proletariat in diesem rückständigen Bauernland? Wo sind die Produktivkräfte auf höchstem Niveau, die Marx als Voraussetzung forderte für die proletarische Revolution? Und überhaupt: Wer soll das Fußvolk sein für die letzte aller Revolutionen? Ein paar Tausend eingeschriebene Bolschewiken in Moskau und Petrograd? Marxistisch geschulten Genossen muss der zurückgekehrte Emigrant wie ein weltfremder Abenteurer erscheinen.

Lenins ewige Flucht

Lenin, eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow, geboren am 22. April 1870 als Sohn eines Schullehrers in Simbirsk, hat allzu lange die Zeit an sich vorbeistreichen sehen. 1895, nach Jahren politischer Untergrundarbeit, verhaftet und nach Sibirien verbannt von der zaristischen Polizei; ab 1900 illegal in Genf und in München; 1907 auf der Flucht in Helsinki; seit 1908 wieder in Genf - Lenin ist ein Reisender, ein ewig Fliehender, und doch immer wieder verknüpft und vernetzt mit der dauernd gleichen Emigrantengemeinde.

Wladimir Iljitsch Lenin
Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924). Bildrechte: IMAGO / UIG

Lenin - Kurzbiografie

  • Wladimir Iljitsch Uljanow wird am 22. April 1870 als Sohn eines Lehrers und späteren Schulinspektors und einer Gutsbesitzertochter in Simbirsk geboren.
  • Ab 1882 besitzt die Familie den erblichen Kleinadel.
  • 1879 bis 1887 lernt der junge Uljanow am Gymnasium in Simbirsk. 1887 wird sein älterer Bruder Alexander wegen eines geplanten Attentats auf den Zaren gehängt.
  • 1887 bis 1891 studiert Uljanow Jura in Samara. Dort ist er bereits revolutionär aktiv. Hier, wie auch später, lebt er von Zuwendungen aus dem Gut seiner Mutter.
  • 1893 siedelt Uljanow nach St. Petersburg über. Dort gibt es erste Kontakte zu führenden Sozialdemokraten.
  • 1895 wird Uljanow erstmals verhaftet, sitzt zwei Jahre im Gefängnis und bringt dann drei Jahre in der sibirischen Verbannung nahe des Flusses Lena zu. Die Vermutung, dass sein Kampfname Lenin (etwa: der von der Lena) auf die Verbannung - ein Statussymbol unter Revolutionären - anspielt, ist unbewiesen.
  • Ab 1900 ist Lenin im Exil in Westeuropa. Er beteiligt sich an der Gründung der Zeitung Iskra (Funke).
  • 1903 setzt Lenin sein Konzept einer Kaderpartei auf dem zweiten Kongress der SDAPR in London durch. Die Partei spaltet sich daraufhin in Menschewiki und Bolschewiki.
  • 1914, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, lebt Lenin in der Schweiz.
  • Im April 1917 reist er nach Petrograd. Nach dem erfolgreichen bolschewistischen Oktoberputsch ruft Lenin die Räterepublik aus.
  • 1918 bis 1920, während des russischen Bürgerkriegs, etabliert Lenin den revolutionären Terror. Er stabilisiert die diktatorische Herrschaft der Kaderpartei und eliminiert andere Parteien, darunter auch Menschewiki und Sozialrevolutionäre.
  • Im August 1918 verwundet ihn die Sozialrevolutionärin Dora Kaplan bei einem Attentat.
  • 1921, angesichts von Bauernaufständen und Arbeiterprotesten, die blutig niedergeschlagen werden, ruft Lenin eine neue Wirtschaftspolitik aus, um den Lebensstandard zu heben.
  • 1922 und 1923 erleidet er Schlaganfälle und beobachtet hilflos Stalins Aufstieg. Lenin versucht vergeblich, Trotzki gegen Stalins schon übermächtige Staatsbürokratie zu positionieren.
  • Am 21. Januar 1924 stirbt Lenin in Gorki bei Moskau.

Die Genfer Russen hocken in den immer gleichen Cafés, schlagen und streiten sich um immer die gleichen Dinge: Feinheiten der marxistischen Theorie, die kaum ein Außenstehender begreift. Ganz weit draußen ist Russland. Unbefriedigend sind die Nachrichten von dort. Zwar gibt es Streiks, Aufruhr sogar - 1905 war ein Hoffnungsschimmer, fast hätte man den Zaren gekippt -, aber das Regime sitzt fest im Sattel. Kommt die Revolution? Wenn ja, wann? Wenn wir tot sind? Zu spät! Das Häuflein der Emigranten kocht im eigenen Saft: Depressionen, Alkohol, Verräterei. Lenin wählt die Askese. Der typische Intellektuelle meidet handfeste Konflikte und ist umso verbissener im revolutionären Glauben.

Erster Weltkrieg: Die kapitalistische Welt zerfleischt sich

Da beginnt im August 1914 der 1. Weltkrieg. Die kapitalistische Welt, der man per Revolution den Garaus machen will, fängt an, sich von allein zu zerfleischen. Lenin begrüßt das Gemetzel, sieht Chancen. Aber die Proletarier aller Länder richten die Gewehre nicht auf ihre Unterdrücker, sondern töten einander. Zerstritten ist, mal wieder, die Gemeinde der Emigranten: Nationalisten und Internationalisten liegen sich in den Haaren. Lenin, letzteren zugehörig, fokussiert seinen Blick. Wichtig ist für den kreativen Dogmatiker eine, und nur eine, Frage: Wer macht die Revolution, wer nutzt die gewaltige Krise des kapitalistischen Systems? Oder, ins gut Marxistische übersetzt: Was ist das revolutionäre Subjekt?

Karl Marx wird angepasst

Wer nach dem 'was' fragt, der fragt auch nach dem 'wo': Wo soll die Weltrevolution ihren Anfangspunkt haben, wo die heiß ersehnte Eruption beginnen? Dem Buchstaben der marxistischen Theorie entsprechend, läge dieser Anfangspunkt in den industriell fortgeschrittensten Ländern. Lenin variiert die Theorie: Weshalb nicht die Lunte anzünden am abbröckelnden Rand der kapitalistischen Weltherrschaft? Wäre nicht gerade Russland der geeignete Ort, von dem der Funke überspringt auf den Kontinent, auf Deutschland, England, Frankreich, also auf die vom alten Marx bevorzugten Regionen? Den schwachen russischen Staat hat ja der Krieg schon an den Rand des Abgrunds getrieben. Doch hier gibt es ein gewaltiges Problem: Ausgerechnet für Russland, für die offene Flanke des verhassten Weltkapitalismus, ist die Subjektfrage ungeklärt. Dem Angriff fehlen die Truppen.

"Avantgarde des Proletariats"

Um Lenins Denken zu verstehen, müssen wir einige Jahre zurückgehen: "Was tun?" heißt Lenins Buch aus dem Jahr 1902. Erstmals ist dort die Rede von der "Avantgarde des Proletariats", der paramilitärisch organisierten Kaderpartei: Ein Elitekorps der Revolution, eine "Partei neuen Typs" (im Unterschied zur alten Sozialdemokratie), fordert Lenin nach 1902 zunächst theoretisch. Der Stoßtrupp soll die Lücke füllen, die das Fehlen reifer proletarischer Massen offen lässt.

So modelt Lenin das marxistische Revolutionskonzept um: Geht Marx noch aus von objektiven ökonomischen Voraussetzungen, einem bestimmten nationalen Entwicklungsstand der Produktion und des Bewusstseins, wird die Sache bei Lenin zur technischen Angelegenheit der Organisation und des Willens. Lenin spaltet damit die russische Linke: 1903 zerfällt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) in zwei sich befehdende Gruppen. Die Menschewiki stehen mit ihren demokratischen Parteistrukturen auf dem Boden des alten, emanzipatorischen Marxismus; aus den Bolschewiki wird Schritt für Schritt Lenins Waffe im Kampf um die Macht. Sie sind das revolutionäre Subjekt - Akteure, zur Elite geschmiedet durch die Aktion.

Revolution ohne Bolschewiki

Doch zurück in die Epoche des Krieges: Das Emigrantengrüppchen in Zürich, dorthin ist Lenin im Februar 1916 umgezogen, sieht sich bald mit unerwarteten Ereignissen konfrontiert: Im Februar 1917 stürzt der Zar. Eine bürgerliche Revolution, ein wirklicher Massenaufstand in Petrograd, hat das verhasste Regime hinweggefegt. Zur Macht gelangt eine Provisorische Regierung, welche sich zu demokratischen Prinzipien bekennt. All das erwischt Lenins Emigrantenklüngel auf dem falschen Fuß: Die Revolution ist da, aber ohne sie! Kundige Marxisten sagen für das rückständige, von Krieg und Misswirtschaft zerrüttete Russland eine lange Phase kapitalistischer Entwicklung voraus.

In dieser Situation kommen Lenin zwei Umstände zugute: Erstens setzt die liberale Provisorische Regierung den Krieg an der Seite Englands und Frankreichs fort. Alexander Kerenski, bald Regierungschef und Lenins großer Widersacher, will mit einer bürgerlich-revolutionären Armee, die nur in seiner Einbildung existiert, das reaktionäre Deutschland besiegen - und scheitert dabei. Zweitens beharrt Kerenskis Regierung auf den bestehenden Eigentumsverhältnissen - auch auf dem Lande. Soldaten und Bauern, meist ist das ein und dasselbe, sind somit gegebene Objekte für Lenins Propaganda.

Im versiegelten Extrazug nach Russland

Aber Lenin sitzt mit seiner Gruppe in der Schweiz. Wie nach Russland gelangen? Die Lösung liefert der deutsche Generalstab, dem Lenins Antikriegsagitation bekannt ist: Im versiegelten Extrazug - wie eine Packung Gift, die man dem Feind in die Wohnung schmuggelt - reisen Lenin und Genossen über Berlin und über schwedisches Gebiet bis an die russische Grenze. Von dort geht es weiter nach Petrograd. Lenin ist in der Heimat, begrüßt von Massen, denen er so fremd ist wie sie ihm. Doch spielt das wirklich eine Rolle? Der Reisende ist angekommen, das Mittel zur Macht bedarf nur noch des letzten Schliffs. Den letzten Schliff, die strategische Orientierung, geben "Lenins Aprilthesen" der Kaderpartei: Aufstand, Sturz Kerenskis, alles Land den Bauern, alle Macht den (bolschewistisch beherrschten) Räten, Verstaatlichung, bedingungsloser Frieden, das ist ihr Inhalt.

Lenin meint es ernst, Kerenski auch. Im Juli schlägt die Kerenski-Regierung bolschewistische Demonstrationen nieder. Lenin versteckt sich, flieht noch einmal über die finnische Grenze. Zum militärischen Führer taugt er kaum. Von Anfang Oktober an organisiert Leo Trotzki, Lenins engster Vertrauter, die Revolte. Wie diese Revolte verlief - und warum sie erfolgreich war - blieb lange Geheimnis der Geschichte. Der Mythos vom Massensturm auf das Winterpalais, den Sitz Kerenskis, trug höchst wirkungsvoll zur Verhüllung bei.

Von der Avantgarde zur Bürokratie

Tatsächlich machten nicht die Massen, stattdessen die hierarchisch organisierte, disziplinierte Parteielite, Trotzkis "Oktoberrevolution". Sie war der erste moderne Militärputsch des Zwanzigsten Jahrhunderts. Der Putsch im Oktober 1917 bewies die Effizienz der Leninschen Umsturztheorie, die Durchschlagkraft der bolschewistischen Kaderpartei. Russland, soweit es beherrschbar war von der Petrograder Administration, lag Lenin zu Füßen. Aber wie fast immer bestimmt die Art der Machtergreifung auch den Charakter des künftigen Staates. Das revolutionäre Subjekt muss als Herrschaftssubjekt seine Grundzüge behalten. Was werden die Kader tun, in den eroberten Büros? Lenin, reisender Intellektueller und Machtmensch, steht mit seiner Avantgarde ja gerade mal am ersten Ziel. Die stalinistische Bürokratie, logische Folge der Herrschaft einer Kaderpartei, wurde sein tragisches Schicksal. Zur Weltrevolution kam es nie.

Der Putsch

Kein Mythos hat ewig Bestand. Auch nicht die Legende von der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" und vom entscheidenden Massensturm auf das Winterpalais. 1931, beinahe 14 Jahre nach den Oktober-Ereignissen von 1917 in Russland, erscheint das entlarvende Buch eines begabten Schriftstellers und Journalisten: Kurt Erich Suckert, Sohn eines Textilingenieurs aus Zittau und einer italienischen Mutter, schreibt unter dem Pseudonym Curzio Malaparte sein Aufsehen erregendes Werk "Die Technik des Staatsstreichs". Akribisch rekonstruiert Malaparte darin Trotzkis Vorgehensweise. Die Reife der Massen, so oft beschworen von der marxistischen Theorie, sei, schildert der Autor, für Lenin und Trotzki schlicht unerheblich gewesen. Trotzkis Taktik habe auf hoch trainierten Stoßtrupps beruht, geformt aus einem bolschewistischen Kaderkorps von höchstens zweitausend Mann. Einen Generalstreik, den andere bolschewistische Führer organisieren wollten, fand Trotzki überflüssig.


Seine Trupps setzte der "General des Aufstands" gegen die technische Infrastruktur des Staates ein: gegen Telefonzentralen, Telegrafenämter, Bahnhöfe, Elektrizitäts- und Wasserwerke, Schienenwege und Brücken - zunächst nicht gegen symbolträchtige Objekte wie den Regierungssitz. Qualifizierte Fachkräfte und Ingenieure folgten den schwer bewaffneten Angreifern unmittelbar, und übernahmen die unter Kontrolle gebrachten Anlagen. Kerenskis Minister saßen rasch im Dunkeln, vor abgeschalteten Telefonen. Angesichts gesperrter Brücken um das Regierungsviertel gelang es niemandem, die starken regierungstreuen Kräfte in der Umgebung Petrograds zu mobilisieren.

Malaparte weist darauf hin, wie die bolschewistische Taktik den Gegner irritierte, obwohl die Regierung den Aufstand vorhergesehen hatte: Vorausschauend hatte man vor gefährdeten Objekten Polizeikordons aufgestellt, in Erwartung chaotischer Massenattacken, die es nie geben sollte. Trotzkis Stoßtrupps - wochenlang für ihre Aufgabe trainiert - manövrierten alle Sicherungen aus. Währenddessen ging das städtische Leben den gewohnten Gang, die große Mehrheit der Bewohner Petrograds bekam von den Ereignissen nichts mit. Der Sturm auf das Winterpalais, übrigens später mit Massen von Komparsen für den Film nachgestellt, diente bloß noch als propagandistischer Abschluss einer längst gewonnenen Schlacht.

Dieser Artikel wurde erstmals im Januar 2011 veröffentlicht und im November 2022 aktualisiert.

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