Interview mit Historiker Oktoberrevolution hatte für Russlanddeutsche überwiegend negative Folgen
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27. August 2020, 14:17 Uhr
Die Folgen der Revolution im Oktober 1917 sind für die Russlanddeutschen bis heute spürbar. Dieses epochale Ereignis gilt nach 100 Jahren als dramatische Zäsur auch für diese Volksgruppe: Auf den Bürgerkrieg und die Hungerkatastrophe 1921/22 folgte eine Art "nationale Wiedergeburt", bevor es unter Stalin zu Verfolgung und Deportation kam. Historiker Viktor Krieger blickt im Interview auf diese Entwicklung zurück.
Bereits im Ersten Weltkrieg verloren zahlreiche Nachfahren der deutschen Kolonisten in Russland ihre Privilegien. Wie haben die Russlanddeutschen dann die Oktoberrevolution wahrgenommen?
Vor dem Ersten Weltkrieg gab es - neben anderen Gruppen von Deutschen - 1,7 Millionen Nachfahren der Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts als Siedler ins Russische Reich geholten Deutschen, meistens auf dem Land. Die Umstände ihrer Einwanderung führten zum Entstehen eines sogenannten Gesellschaftsvertrags: Sie mussten loyal und patriotisch sein und dem Staat Nutzen bringen, d.h. für sich selbst sorgen und dem Staat Steuern zahlen. Der Staat wiederum garantierte ihnen Selbstverwaltung, Glaubensfreiheit und Landeigentum. Wenn die Monarchie oder der Staat seinen Verpflichtungen nicht nachkam oder sie verletzte, besaß der Kolonist das Recht auf Abzug, Kündigung des Vertrages bis hin zur Auswanderung.
Das nationale Selbstverständnis der russlanddeutschen Bauern wies deshalb einen entscheidenden Unterschied zu dem der Nachbarvölker auf. Der enttäuschte russische oder ukrainische Landlose ging entweder in die Stadt und wurde dort zum Proletarier - oder er zettelte Unruhen bis zur Revolution an. Aber wenn ein Wolga- oder Schwarzmeerdeutscher landlos wurde oder beim Erwerb von Land behindert wurde, konnte er eher sagen: 'Nee, dann lieber nach Amerika', um dort gut zu verdienen und später eine Farm zu kaufen.
Und diese Möglichkeit, auszuwandern - noch lange vor der Revolution - war eine von vielen Besonderheiten dieser Volksgruppe. Sie waren so erzogen, den Zaren zu unterstützen und das Gesetz einzuhalten. Sie waren mehr als andere Völker auf die Monarchie eingestellt. Und deshalb waren sie vom Staat und der Autokratie im Ersten Weltkrieg so maßlos enttäusch, begrüßten enthusiastisch die bürgerliche Revolution 1917, die die Restriktionen aufhob und den Weg zu dem alten Gesellschaftsvertrag einschlug. Aber der einige Monate später stattfindenden Oktoberrevolution standen sie skeptisch bis ablehnend gegenüber. Vor allem, was die Vergemeinschaftlichung von Grund und Boden anging, die geplante Kollektivierung der Landwirtschaft, die antireligiöse Politik und die Verfolgung der Gläubigen und Priester.
Haben die Deutschen in Russland im Bürgerkrieg eher bei den Bolschewiki oder bei den Weißen gekämpft?
Gewissermaßen hing das von der sozialen Lage und dem Siedlungsgebiet ab. Die deutschen Siedler auf dem Territorium der heutigen Ukraine unterstützten eher die Weiße Bewegung, sie setzten sehr stark auf General Denikin, der gegen die Herrschaft der Bolschewiki und auch gegen die anarchistische Bewegung kämpfte. Die deutschen Siedler waren vorwiegend wohlhabende Bauern, die vor allem versuchten, ihr Eigentum schützen.
Bei den Wolgadeutschen war die Situation anders. Zum einen wurden sie von den Bolschewiki als eine eigene Nationalität anerkannt, erhielten ein Selbstbestimmungsrecht und bekamen am 19. Oktober 1918 als erstes russländisches Volk eine national-territoriale Autonomie. Hier hatten die Kommunisten naturgemäß einen großen Einfluss. Zum anderen lebten hier mehr Menschen, die landarm oder ganz landlos waren. Ein Teil von ihnen kämpfte in den Reihen der Roten Armee.
Doch zugleich darf man nicht vergessen, dass es in dieser Bevölkerung wegen der katastrophalen Hungersnot 1921/22 mehrere Aufstände gegen die bolschewistischen Machthaber gab. Das war eine Folge der Politik des Kriegskommunismus. Unter Androhung von Gewalt wurden die Bauern gezwungen, große Mengen an Lebensmitteln an den Staat abzuliefern. Allein unter den Wolgadeutschen gab es nicht weniger als 100.000 Hungertote. Die Folgen dieser Periode der bolschewistischen Macht waren für die deutschen Siedler insgesamt katastrophal. Die Zahl der Hunger- und Bürgerkriegsopfer unter der deutschen Minderheit wird auf mindestens 180.000 geschätzt, ganz abgesehen vom totalen Ruin der Wirtschaft.
Aber dennoch hatten die Russlanddeutschen ein Interesse daran, die Bolschewiken zu unterstützen, um Autonomie für sich zu bekommen. War die Wolgadeutsche Republik also auch eine Folge der Oktoberrevolution?
Diese Autonomiebestrebung existierte schon vor dem Ersten Weltkrieg. Es war dies vor allem der ureigene Wunsch der wolgadeutschen Bevölkerung, ihre national-kulturellen und politischen Interessen im Rahmen einer territorialen Autonomie zu sichern. Dort lebten eine halbe Million Deutsche dicht beieinander. Realisiert wurde dieser Wunsch nach einer regionalen Selbstverwaltung erst nach der Oktoberevolution aufgrund der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki. Das war ein Grund für die Unterstützung der bolschewistischen Machthaber, vor allem in der nationalen Frage. Unter dem Zaren-Regime hatten sie von solch einer Autonomie nicht träumen können.
Autonomie der Wolgadeutschen:
- ab 19.10.1918 die Arbeitskommune des Gebiets der Wolgadeutschen
- vom 19.12. 1923 bis 28.08.1941 Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen
Gab es nach der Oktoberrevolution vielleicht eine Art "nationale Wiedergeburt" für die Russlanddeutschen?
Was bedeutet "nationale Wiedergeburt"? Die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki war der Form nach national - aber sozialistisch im Inhalt. Das heißt, Lenins Werke konnte man nicht nur auf Russisch, sondern auch auf Deutsch lesen und lernen. Oder man hat Fach- und Hochschulen gegründet, in denen in deutscher Sprache gelehrt und geforscht wurde. Oder man hat Museen erlaubt. Aber was mussten diese Institutionen neben den Museen, Theatern oder der deutschsprachige Presse in erster Linie machen? Die deutsche Bevölkerung zu Sowjetmenschen erziehen! Das heißt, die Elemente der nationalen Kultur wurden genutzt, um den kommunistischen Vorstellungen zu dienen.
Das war trotzdem besser als nichts, oder?
Im Prinzip, ja. Lieber ein sozialistisches deutsches Museum haben als überhaupt keines. Die Deutschen besaßen keine Selbständigkeit. Aber sie haben zumindest einen Rahmen gehabt, in dem sie Elemente ihrer deutschen Kultur bewahren und weiterentwickeln konnten. Die Muttersprache konnte dadurch weiter gepflegt werden und die Deutschen konnten sich intellektuell, wenn auch ideologiebezogen, ausbilden lassen.
Und schon in den 1930er-Jahren hat man gesehen, dass die Wolgadeutsche Republik mit ihren Schulen, Hochschulen, Museen, Theatern, Verlagen, Zeitungen, Zeitschriften usw. einen gewissen Entwicklungsstand erreicht hatte. Viele Menschen, besonders diejenigen, die aus unterprivilegierten Gruppen kamen - Landlose oder sogenannte Batraken -, konnten dadurch eine gute Bildung erhalten und als Kader der Wolgadeutschen Republik Karriere in der Sowjetunion machen.
Batraken Bezeichnung für das ländliche Proletariat in Russland bzw. der Sowjetunion, bestehend aus Knechten, Mägden, Tagelöhnern, Hausangestellten und Hirten
Hatte die Oktoberrevolution für die Russlanddeutschen eher positive oder ehe negative Folgen?
Insgesamt überwiegen eindeutig negative Folgen. Nach einer Schätzung sind zwischen 1918 und 1948 nicht weniger als 480.000 Deutsche vorzeitig zu Tode gekommen - erschossen, erfroren, verhungert. Die zunehmende Verfolgung der nationalen Minderheiten seit der Mitte der 30er-Jahre hat insbesondere die deutschen Sowjetbürger getroffen, vor allem Stalins große Terrorwelle der Jahre 1937/38. Obwohl die deutsche Minderheit nur 0,8 Prozent der Bevölkerung der UdSSR ausmachte, betrug ihr Anteil an den Opfern 8,1 Prozent: Von den insgesamt 680.000 Sowjetbürgern, die in diesen beiden Jahren als Volksfeinde, Landesverräter und Spione erschossen wurden, waren 55.000 Deutsche.
Als Nazideutschland 1941 die UdSSR angriff, begannen für die deutschen Sowjetbürger Jahrzehnte der Deportationen, Zwangsarbeit, Germanophobie, Sondersiedlung und umfassenden Diskriminierung, die zahlreiche Opfer forderten. Das kann auch durch eine gewisse Normalisierung im Alltagsleben nach 1955 nicht übertüncht werden.
Die deutschen Siedler lebten an der Wolga, auf der Krim, im heutigen Aserbaidschan und Georgien und rund um das damalige Sankt Petersburg. Sie hatten lange Zeit wenig miteinander zu tun. Nach der Gründung der Sowjetunion fielen herkunftsbedingte, ständische und konfessionelle Schranken weg: Aber erst die Verfolgungswelle nach 1941 führte zu einer übergreifenden Schicksalsgemeinschaft.
(Die Fragen stellte Karina Oganesyan.)
Viktor Krieger Dr. Viktor Krieger wurde in Kasachstan geboren. Er promovierte an der Akademie der Wissenschaften in Alma-Ata (heute Almaty). 1991 siedelte er nach Deutschland über. Derzeit arbeitet er als Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg. Der Historiker forscht zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen im Kontext der multikulturellen und multikonfessionellen Vielvölkerstaaten Russland bzw. UdSSR.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR ZEITREISE Magazin | 07.11.2017 | 21:15 Uhr