Vorbereitungen für den Aufstand

Am 11. Juli 1944 stoppen die Transporte aus Ungarn. Unmittelbar auf die größte Mordwelle in der Geschichte des Lagers kehrt verdächtige Ruhe ein. Nur noch vereinzelt kommt es zu Überstellungen in die Todeszone. Es mehren sich die Anzeichen, dass eine Auflösung des Lagers unmittelbar bevorsteht. Und damit auch die Vernichtung aller Spuren und Zeugen des Verbrechens. Diese Entwicklung bringt den letzten entscheidenden Schub. Die Widerstandsgruppe im Sonderkommando beschleunigt nun alleine - ohne Rückendeckung durch den Rest des Lagers - ihre Vorbereitungen für den Aufstand.

Wir, das Sonderkommando, wollten schon seit langem unserer schrecklichen Arbeit ein Ende machen, zu der wir unter der Drohung des Todes gezwungen werden. Wir wollten eine große Sache vollbringen. Aber die Menschen aus dem Lager, ein Teil der Juden, Russen und Polen, hielten uns mit aller Kraft davon zurück und zwangen uns, den Termin des Aufstandes hinauszuschieben.

Salmen Gradowski Mitglied der Widerstandsgruppe, am 6. September 1944 in einem weiteren nach 1945 entdeckten Kassiber

Die Terminierung für den Tag X auf den 28. Juli 1944 erfolgt aus Sicht der aktuellen Forschung wahrscheinlich kurzfristig. Denn vier Tage zuvor war das nur 300 Kilometer entfernte Vernichtungslager Majdanek befreit worden. Wann, wenn nicht jetzt! Doch unmittelbar vor dem geplanten Anschlag erfährt die Gruppe, dass überraschend ein von SS und Wehrmacht schwer bewachter Zug mit 834 Häftlingen aus ebenjenem Lager Majdanek eintreffen wird. Die Erfolgschancen eines Angriffs zu diesem Zeitpunkt sind verschwindend gering:

Um die Wahrheit zu bekennen, so haben unsere Leute einfach geweint, da sie wussten, dass man eine solche Aktion nicht aufschieben darf, weil sie sonst nicht so ausgeführt wird, wie man die geplant hatte.

Salmen Lewenthal im Kassiber vom November 1944

Endzeitstimmung im Sonderkommando

Alle Hoffnungen, mit einem entscheidenden gemeinsamen Schlag, das Blatt zu wenden, scheinen vom Tisch. Wie nun weiter angesichts der immer offenkundigeren Anzeichen einer baldigen Liquidierung des Lagers und des Sonderkommandos? Bereits Ende September lässt die SS 200 Männer des Sonderkommandos offiziell ins Nebenlager Gleiwitz überstellen. Ein Vorwand. Schon wenige Kilometer von Auschwitz entfernt werden die Männer eingesperrt und vergast. Anschließend äschern SS-Männer im Krematorium II des Lagers zum ersten Mal selbst Gefangene ein. Der Versuch, diesen Mord so vor den ehemaligen Mitgefangenen geheimzuhalten, schlägt fehl. Am nächsten Morgen entdecken Männer des Sonderkommandos ihnen bekannte Kleidungsstücke im Krematorium.

Ein Todeskandidat wagt den Aufstand

Als am 7. Oktober aus den Kommandos der Krematorien IV und V erneut 300 Männer selektiert werden sollen, entschließt sich einer der Todeskandidaten, der 54-jährige Chaim Neuhoff spontan zum Widerstand. Er, der fast seine gesamte Familie in Auschwitz verloren hat, nimmt einen Hammer und schlägt einen SS-Mann nieder.

Neuhoff schrie Hurra und die anderen stimmten ein. Alle liefen auseinander und stürzten sich auf die SS - warfen Steine und schlugen sie mit Eisenstangen. Die SS-Leute schossen mit ihren Pistolen, rannten hinter den Stacheldraht und riefen Verstärkung. Dann habe ich noch gesehen, dass das Krematorium plötzlich brannte.

Jehoshua Rosenblum Überlebender des Aufstands (1996)

Der Eruption, dem in diesem Moment unerwarteten Aufbegehren, folgt ein brutales Massaker der SS. In nur einer Stunde kann sie den Aufstand des Sonderkommandos niederschlagen, da die Häftlinge nur mit Fäusten, Messern und Eisenstangen bewaffnet sind. Mitglieder der Widerstandsbewegung des Lagers hatten sich geweigert, ihnen versteckte Handgranaten auszuhändigen. 451 Häftlinge fallen am Ende dieses Tages der Revolte und anschließenden Strafexekutionen der SS zum Opfer. Lediglich drei SS-Männer sterben. Und auch die Beschädigungen eines Krematoriums, der Versuch der Häftlinge durch einen Brand die Todesmaschinerie zu zerstören, sind minimal.

Letzte Selektion im Sonderkommando

Der lang ersehnte Aufstand – in der Bilanz eine bittere Enttäuschung. Und doch, schreibt der Historiker Andreas Kilian, der diesen Tag und seine Vorgeschichte minutiös nachgezeichnet hat, "andererseits erfüllte die Tatsache, dass sich Juden nicht widerstandslos in den Tod treiben ließen, die Überlebenden mit Stolz. Der Aufstand gewann für die gepeinigten, betäubten und traumatisierten Sonderkommando-Häftlinge daher letztlich eine hauptsächlich symbolische Bedeutung und wurde auch von Salmen Gradowski als größte Gelegenheit, diesem elenden, finsteren Leben ein heldenhaftes Ende zu setzen, betrachtet."  

Das Kriegsende erleben und überleben von den insgesamt ca. 2.200 Häftlingen des Sonderkommandos nur knapp 100. Die Spur von Salmen Lewenthal verliert sich am 26. November 1944, als die SS eine allerletzte Selektion im Sonderkommando vornimmt.

Wir gehen jetzt zur Zone. Die 170 übrig gebliebenen Männer. Wir sind sicher, dass sie uns in den Tod führen werden. Sie haben 30 Leute ausgewählt, die im Krematorium V bleiben. Heute ist der 26. November 1944.

Kassiber eines namentlich nicht bekannten Häftling des Sonderkommandos

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | Wem gehört Geschichte? - Der Kampf ums Erinnern und Vergessen | 24.11.2019 | 22:20 Uhr

NS-Verbrechen

Auschwitzgefangene vorm Häftlingskrankenhaus mit Video
Als der Marsch am 18. Januar los geht, liegen viele Gefangene im Krankenbau. Der Großteil ist zu schwach um das Lager zu verlassen und bleibt zurück. Hier sind sie kurz nach der Befreiung mit Rotarmisten zu sehen. Bildrechte: Sarah Leyk