Verfolgung Vergessene Nazi-Opfer: Die Zeugen Jehovas

10. März 2023, 18:38 Uhr

Die Zeugen Jehovas gehörten zu den allerersten Opfern der Nazi-Herrschaft – doch lange Zeit war das relativ unbekannt. Dabei widersetzte sich keine andere Religionsgemeinschaft mit einer vergleichbaren Unbeugsamkeit dem Anpassungsdruck des NS-Regimes. Viele Zeugen Jehovas mussten für ihre Überzeugung mit dem Leben bezahlen.

Ein kleines Stoff-Dreieck, lila-farben, wenige Zentimeter groß. Rund 2.000 Frauen, Männer und Jugendliche haben diesen "lila Winkel" tragen müssen – eine Kennzeichnung für die Zeugen Jehovas, auch Bibelforscher genannt, in den deutschen Konzentrationslagern.

Zeugen Jehovas: "Vergessene Opfer"

Detlef Garbe, langjähriger Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, hat sich als einer der ersten Historiker mit der Geschichte dieser Jahrzehnte lang "vergessenen Opfer" auseinandergesetzt und 1993, mit einer ersten großen Studie, eine Art "Initialzündung" in der Geschichtsforschung herbeigeführt. Seine Ergebnisse: Die Zeugen Jehovas gehörten zu den allerersten Verfolgtengruppen im Nationalsozialismus, keine andere Religionsgemeinschaft widerstand zudem "mit einer vergleichbaren Geschlossenheit und Unbeugsamkeit dem nationalsozialistischen Anpassungsdruck".

Pazifisten mit kritischer Distanz zum Staat

Bis 1916 sind im Deutschen Reich gerade mal 1.500 Anhänger der Zeugen Jehovas in internen Verzeichnissen erfasst. Allesamt Menschen, die ihrem Grundverständnis nach ausschließlich Christus und dessen bevollmächtigte Instanz, die "leitende Körperschaft" mit Sitz in New York, als Autorität anerkennen. Zum Staat und seinen Institutionen gehen sie auf Distanz. Als "Agenten" einer ausländischen Macht, dubiose Elemente, die den bösen Keim "Pazifismus" ins "Vaterland" tragen, werden sie bereits damals argwöhnisch betrachtet. Und ihre wenigen Aktivitäten in den letzten zwei Jahren des Ersten Weltkriegs werden eingeschränkt.

Zeugen Jehovas missionieren in der Fussgängerzone in Freiburg mit Zeitschriften und Broschüren.
Zeugen Jehovas mit auffälligen Plakaten und kostenlosen Broschüren: Heute wundern sie niemanden, doch in den 1920er-Jahren war diese Art von "Glaubens-Marketing" neu, eine Importe aus den USA. Bildrechte: imago/Winfried Rothermel

"Missionarischer Feldzug" nach dem Ersten Weltkrieg

Das ändert sich, als der Erste Weltkrieg endgültig verloren ist. Während Millionen Deutsche danach in eine tiefe Sinnkrise schlittern und sich nur langsam vom Zusammenbruch der alten kaiserlichen Ordnung erholen, setzt die kleine "Wachturm"-Gesellschaft plötzlich ungeahnte Energien frei. Kein Wunder: Ihre bislang übermächtigen Konkurrenten, die beiden großen Kirchen, haben als Sinnstiftungs-Monopole massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Menschen haben nicht vergessen, was auf den Koppeln der deutschen Soldaten stand: "Gott mit uns".

Angetrieben von dieser Zäsur, machen sich die Bibelforscher zu einem wahrhaft "missionarischen Feldzug" auf: vor Kirchen, in Gemeindesälen, beim obligatorischen Besuch von Haustür zu Haustür. Viele Neugierige machen so erstmals Bekanntschaft mit den Glaubensgrundsätzen der Zeugen Jehovas. Einer der wichtigsten lautet: Haltet Euch von den "satanischen" Versuchungen fern. Geht auf Distanz zu den Vertretern der "verderbten Welt", seien es Kaiser oder Ministerpräsidenten, Bischöfe oder Gewerkschaften. Als wahrer Zeuge Jehovas erweist sich der, der von Mitgliedschaften vor allem in Parteien und Gewerkschaften Abstand nimmt – und auch jegliche Teilnahme an Wahlen konsequent ablehnt.

Diese radikale Absonderung fordert heraus – nicht nur die Vertreter der großen Religionen, die vor Wut schnauben und die Bibelforscher kurzerhand zusammen mit den "gottlosen" Bolschewiken zur größten Bedrohung der Christenheit erklären, auch völkisch-nationale Publizisten schlagen Alarm.

Glaubens-Marketing nach US-Vorbild

Aufmerksam registriert man in diesen Kreisen nicht nur die Inhalte, die mit ihrer Fixierung auf alttestamentarische Schriften seltsam "jüdisch" anmuten. Argwohn erregt auch die neue, bislang ungekannte missionarische Betriebsamkeit. Die Gemeinschaft bietet permanent Veranstaltungen und Vorträge kostenlos an. Und ihre Broschüren und Bücher gehen in Millionenauflage für Pfennigbeträge unters Volk.

"Wie konnte sich eine kleine Religionsgemeinschaft dies leisten?" fragt Gerald Hacke, Historiker am Hannah-Arendt-Institut Dresden. "Da die Bibelforscher einerseits ihre finanziellen Quellen nicht offenlegten, ihren Gegnern aber andererseits die in den USA normalen Geschäfts- und Vertriebsmethoden, derer sich die Gemeinschaft bediente, unbekannt waren, lag es nahe, jüdische Geldquellen anzunehmen."

Wie der Dresdner Historiker Gerald Hacke weiter ausgearbeitet hat, beginnen so einige spätere NS-Ideologen wie Alfred Rosenberg schon früh, sich auf diese "amerikanische Sekte" einzuschießen. Es gehe ihr nur darum, "die Massen zu hypnotisieren", um so der "seelischen Vorbereitung der jüdischen Weltherrschaft" Vorschub zu leisten. Die Zeugen seien daher nichts weiter als ein perfides Instrument des "Weltjudentums".

Dieser selbst perfiden verschwörungstheoretischen "Beweisführung" schließen sich in der Folge auch einzelne evangelische und katholische Publizisten an. Warum nicht völkische Argumente aufgreifen, wenn man damit die ungebetene Konkurrenz ausbremsen kann? "Die späteren Verfolgungsmotive", sagt Detlef Garbe, "waren so sämtlich bereits in den 1920er-Jahren angelegt."

Sachsen: eine Hochburg der Zeugen Jehovas

Doch noch finden die Nationalisten nicht in allen Regionen gleichermaßen Gehör. In Sachsen und Thüringen etwa erleben die Erlösungsreligionen Anfang und Mitte der 1920er-Jahre geradezu einen Boom. 1926 steigt die Dresdner Bibelforschergemeinde gar zur stärksten Ortsgruppe weltweit auf. Selbst in New York, dem Sitz der "Watch Tower Society", gibt es nicht so viele Anhänger auf einen Haufen.

In nackten Zahlen mögen die 1.430 Bibelforscher der sächsischen Hauptstadt noch recht mager wirken, doch hält der Zustrom an. 1926 kommt bereits jeder vierte Zeuge Jehovas weltweit aus Deutschland – eine Entwicklung, die 1933 radikal gestoppt wird.

Die Altstadt von Dresden von oben
Die sächsische Landeshauptstadt Dresden ist eine weltweite Hochburg der Zeugen Jehovas in den Zwanzigern. Doch in den Dreißigern, nach der Machtübernahme der Nazis, beginnt eine gnadenlose Verfolgung. Bildrechte: IMAGO/Sylvio Dittrich

Ab 1933: Verfolgung im Nationalsozialismus

Die Abwehr der religiösen Verächter deutscher Ordnung wird nun staatspolitisches Programm.  Eine Gemeinschaft, die den "deutschen Gruß" ebenso wie das "Ehrenrecht" des Wählens ablehnt, kann ein nach Loyalitätsgesten süchtiges System wie der Nationalsozialismus nicht tolerieren. Der "Tatbestand" des Nichteinfügens in den "Volkskörper" wird bereits als zersetzende Geste empfunden und abgestraft.

So erlassen bereits im Frühjahr 1933 die Länder Sachsen, Bayern und Mecklenburg die ersten Verbote der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Vor Ort rücken SA und Polizei aus, um auf eindrückliche Weise den Delinquenten das Arsenal ihrer Druckmittel vorzuführen. Im sächsischen Augustusburg werden Hausdurchsuchungen präventiv veranlasst. In Lichtenstein und Oelsnitz (beide Erzgebirge) werden Wahlverweigerer in besonderer Weise gedemütigt: Sie müssen Plakate durch die Stadt tragen, auf denen zu lesen ist: "Wir Lumpen haben nicht für Deutschland gestimmt!"

Ein Coup der Zeugen Jehovas gegen die Nazis

Dieser ersten Phase des inszenierten "Volkszorns" folgen Verhöre, Verhaftungen und Verurteilungen durch die neu ins Leben gerufenen Sondergerichte. Und als sei das alles nicht genug, ergreift die sächsische Gestapo die nächste Initiative und organisiert im Juni 1936 eine erste koordinierte Verhaftungswelle. Bald zieht man reichsweit nach und gibt sich im Herbst des Jahres überzeugt: Nun ist diese dubiose Organisation restlos zerschlagen. Doch weit gefehlt.

Am 12. Dezember 1936 kommt es deutschlandweit zwischen 17 und 19 Uhr zu einer fulminanten Gegenreaktion. 3.500 Bibelforschern gelingt es, mehr als 100.000 Flugblätter zu verteilen. Nur ganz wenige Zeugen Jehovas werden dabei geschnappt. "Sie haben reichsweit diese Flugblattverteilungen gemacht in einer Größenordnung, die Mitte der 1930er-Jahre nicht mal mehr die im Untergrund tätigen Arbeiterbewegungs-Zirkel durchführen konnten", konstatiert Detlef Garebe. "Da wurden auf einen Schlag, in allen Städten, zur gleichen Stunde Zehntausende von Flugblättern unter die Matten der Hausflure gelegt – ohne dass die Gestapo das vorher mitgekriegt hat. Das war, allein rein logistisch betrachtet, stark – führte aber natürlich sofort zu einer erneuten Steigerung der Verfolgung."

SS und Gestapo reagieren auf diese unerwartete Machtprobe mit Brutalisierung. Die Verhör- und Folterkeller der Gestapo füllen sich. Dennoch: Beweise, die für eine Verurteilung wegen illegaler Tätigkeit ausreichen, kann die Staatspolizei nur in geringem Maße erbringen. Was bleibt, ist daher einzig die Verhängung von Schutzhaft – also die Einweisung in ein Konzentrationslager.

Besucher stehen am Lagertor der KZ-Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar mit der Inschrift Jedem das Seine
Tor des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald Bildrechte: picture alliance/dpa/Martin Schutt

Die "Gottesprüfung"

Seit 1933 geicht der Konflikt mit den Nationalsozialisten einer "einzigen Eskalationsspirale", betont Detlef Garbe. Leben die meisten Zeugen Jehovas bis dahin eher unscheinbar, arbeiten und zahlen Steuern, so stehen sie nun im Fokus einer martialischen Gleichschaltungspolitik. SS und Gestapo sehen es als ihre Aufgabe an, die Zeugen Jehovas nicht nur als Organisation zu zerschlagen, sondern jeden einzelnen Anhänger dazu zu bringen, seinem Glauben abzuschwören. Erst diese Haltung macht die Zeugen zu konsequenten Widerständlern. Denn für sie käme ein Einlenken einem Pakt mit dem Satan gleich.

"Keiner von ihnen wollte Hitler stürzen", sagt Detlef Garbe. "Ihr Widerstands-Motiv war: 'Wir wollen unseren Glauben leben!' Und weil sie dieser Überzeugung waren und gesagt haben: 'Wir sind jetzt hier in einer Glaubensprüfungs-Situation', gerade deshalb sind sie standhaft geblieben. Sie haben Schlimmstes auf sich genommen, um ihrem Glauben treu zu bleiben. Im Grunde führte erst das Verbot dazu, dass sie sich wehrten. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 schließlich verschärfte sich die Situation, denn nun war das 'Treiben' nicht mehr nur illegal, sondern wurde als Wehrkraftzersetzung gewertet."

Todesstrafe wegen Kriegsdienstverweigerung

Jeder, der jetzt den Empfang des Wehrpasses bzw. den Kriegsdienst verweigert, muss mit dem Tod rechnen. Die Zeugen Jehovas sind die einzige Gruppe im NS-Staat, die den Kriegsdienst kollektiv ablehnt. Mitte September, zwei Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, lässt Heinrich Himmler im KZ Sachsenhausen deshalb ein Exempel statuieren. Die erste öffentliche Hinrichtung eines Kriegsdienstverweigerers soll die Gemeinde der Bibelforscher erschüttern. Das ganze Lager, 8.500 Männer, muss antreten, um der Exekution des 29-jährigen Zeugen Jehovas August Dickmann beizuwohnen.

Nach den Schüssen treten alle ab. Bis auf 367 Häftlinge – diejenigen, denen man eine Mitgliedschaft in der Bibelforschervereinigung zur Last legt. Jetzt und hier sollen sie sich entscheiden: entweder sofortige Unterschrift unter die Verpflichtungserklärung, dass sie dem Glauben künftig abschwören, oder Tod durch Erschießen.

Dieser Erpressungsversuch der SS geht jedoch komplett nach hinten los. Nur zwei Häftlinge treten vor – nicht um zu unterschreiben, sondern um ihre bereits gegebene Unterschrift zurückzuziehen. Statt Kapitulation und Selbstaufgabe reagiert die komplette Gruppe mit einer Geste unerschütterlicher Glaubensdemonstration und Solidarität. Jeder Vierte wird diesen Mut noch im gleichen Jahr mit dem Tod im Lager bezahlen.

Dieses Thema im Programm: MDR um 2 | 07. Mai 2021 | 14:00 Uhr

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