Das vergessene KZ Sachsenburg bei Chemnitz
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27. Juli 2022, 15:33 Uhr
Ab Mai 1933 wurde in einer leer stehenden Spinnerei in Sachsenburg nahe Chemnitz ein sogenanntes "Schutzhaftlager" für Gegner des NS-Regimes errichtet. Das spätere KZ war eines der ersten in Deutschland. Und wurde beinahe vergessen.
Eine kleine Halbinsel an der Zschopau, begrenzt von einem Mühlgraben, idyllisch gelegen in Frankenberg bei Chemnitz – im 19. Jahrhundert war das ein ideales Gelände für eine Spinnerei. Anna Schüller unterrichtet am Gymnasium in Chemnitz Kunst und Geschichte. Mit ihren Schülern kommt sie gelegentlich hierher. Doch es ist kein Ausflug in eine verträumte Landschaft, denn ab 1933 wurden die leerstehenden Gebäude der Spinnerei als Konzentrationslager zu einem grausamen Folterort. "Die Schüler müssen nicht nach Buchenwald oder Sachsenhausen fahren", sagt die 26-Jährige. "Sie können erleben, was im Nationalsozialismus unmittelbar vor ihrer Tür passierte, ganz in der Nähe, mit Menschen aus der Umgebung. Und lernen, wie schnell so ein politischer Umbruch passieren kann. Der Blick in die Geschichte kann für das Heute sensibel machen."
"Schutzhaftlager" für Gegner des NS-Regimes
Ungefähr 50 Arbeiterfunktionäre aus Chemnitz waren 1933 die ersten Gefangenen im "Schutzhaftlager", wie das KZ damals genannt wurde. Sie errichteten das Lager. Ein Jahr später kamen viele der Häftlinge aus dem aufgelösten KZ Colditz hierher. Mehr als 7.000 Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, Zeugen Jehovas, Christen der Bekennenden Kirche, katholische Geistliche, Juden, Homosexuelle und Gewerkschafter waren von 1933 bis 1937 in Sachsenburg inhaftiert. Bruno Apitz, Max Sachs, Walter Janka und Alwin Brandes gehörten zu ihnen. Gegner des Nationalsozialismus wurden weggesperrt – das diente auch der Abschreckung. "Es ging um Demütigung, Isolierung, darum, Angst und Furcht zu verbreiten. Sachsen war ein Zentrum des frühen Lagersystems, weil die Linke sehr stark war in Sachsen", sagt Mike Schmeitzner. Der Historiker arbeitet am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden. Vieles sei noch gar nicht bekannt, so Schmeitzner. Dabei hatte dieses Lager eine Schlüsselfunktion.
Konzentrationslager der ersten Stunde
Schon wenige Tage nach der Machtübernahme der NSDAP wurde am 4. Februar 1933 die "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes" erlassen. Sie bildete die gesetzliche Grundlage zur Verhaftung von Zehntausenden politischen Gegnern des NS-Regimes. Die bestehenden Gefängnisse waren schnell überfüllt. Als größere Haftstätten wurden Konzentrationslager geschaffen – in dieser frühen Zeit bereits 60 bis 100, davon etwa 20 in Sachsen. Für das erste sächsische Lager wurde eine Turnhalle bei Flöha umfunktioniert. Das war am 8. März 1933.
Auch Sachsenburg gehörte zu den ersten Konzentrationslagern in Deutschland. Seinen Namen hat es von dem Schloss Sachsenburg. Dort waren die politischen Häftlinge in den ersten Wochen ab Mai 1933 untergebracht, bevor die Spinnerei gefunden wurde, die Platz für 1.400 Häftlinge bot. Danach wurde das Schloss eine Gau-Schule. Doch die Zeit der vielen kleinen KZs war bald vorbei. "Mitte der Dreißiger Jahre setzte eine Konzentration der Lager ein. Es gab nur noch wenige, dafür aber Große. Sachsenburg war bis zum Sommer 1937 das einzige Lager in Sachsen. Selbst Gefangene aus dem Rheinland und Berlin wurden hierher gebracht", berichtet Mike Schmitzner.
Ausbildung für KZ-Aufseher
Anna Schüller hat für ihre Masterarbeit die Wachmannschaften im KZ Sachsenburg erforscht. Bei der Auswertung von rund 100 Biografien stellte sie fest, dass die Zahl der Wachmannschaften im Lager sehr hoch war, fast so hoch wie die der Gefangenen. Es gab einen sehr modernen Schießstand mit beweglichen Zielen. "Das Lager hatte also die Funktion einer Ausbildungsstätte. Die mittlere Ebene der KZ-Aufseher wurde hier geschult", sagt Anna Schüller. Hier haben die SA- und SS-Schergen gelernt, was sie später perfektioniert haben. Der Prügelbock beispielsweise wurde hier entwickelt und in den Konzentrationslagern Buchenwald und Sachsenhausen weiter eingesetzt. Auch die "Karrieren" der Kommandanten begannen hier und wurden in Buchenwald, Dachau, Sachsenhausen und Majdanek fortgesetzt. Und nicht nur das.
Hier ist auch gut erkennbar, wie die SS zu einer zweiten Armee herangezogen wurde. Im Frühling 1935 stieg die Stärke der Wachtruppen im KZ Sachsenburg auf 400 Mann an. Der Platz in der Spinnerei reichte nicht mehr. Sie wurden in eine Zigarettenfabrik nach Frankenberg verlegt. "Die Kriminalisierung von Häftlingen, die Ideologisierung und Militarisierung hatten sie da schon gelernt", so Mike Schmitzner.
Das erzählt auch die Täterbiografie von Max Simon. 1934 war er Lagerkommandant in Sachsenburg, bevor er ab 1935 zum Führungsstab der SS-Division "Totenkopf" kam, der Eliteeinheit, die sich durch besonders brutales Vorgehen im Zweiten Weltkrieg hervortat. Als Generalleutnant der Waffen-SS ließ er am 10. April 1945, wenige Tage vor Kriegsende, drei Männer in dem Dorf Brettheim erhängen. Sie hatten vier Hitlerjungen entwaffnet, die noch Widerstand leisten wollten.
Schwerstarbeit und Folter im KZ Sachsenburg
Für den Umgang mit Häftlingen in den Lagern gab es Richtlinien. Sie besagten, dass "Schutzhäftlinge streng, aber gerecht und menschlich zu behandeln" seien. Körperliche Züchtigung ist verboten. Gehalten hat man sich daran kaum. Die Inhaftierten von Sachsenburg mussten schwerste Arbeit im nahegelegenen Steinbruch und beim Bau von Uferbefestigungen leisten und jeden Morgen auf dem Appellplatz antreten. Sie erduldeten Schikane durch den "Sachsengruß" – stundenlanges Stehen mit Armen hinter dem Kopf und Blick auf eine Wand – oder durch das "Häschen-Machen" – Hockstrecksprünge bis zur Besinnungslosigkeit. "Schlange" nannten es die KZ-Schergen, wenn sie ihre Häftlinge über den Schotter robben ließen.
Im September 1937 wurden die letzten Häftlinge in das inzwischen errichtete Konzentrationslager Buchenwald verlegt.
Ausstellung und Mahnmal in der DDR
Der DDR war der Ort eine Gedenkausstellung und ein Mahnmal wert. Obwohl der Spinnereibetrieb ab 1945 wieder aufgenommen wurde, gab es eine Erinnerungskultur. Zwei Zimmer, eines für eine Ausstellung, eines für Vorträge. Schüler kamen hierher, Kränze wurden niedergelegt. Der Ausstellungsraum wurde mit der Spinnerei in den 1990er-Jahren geschlossen. Geblieben ist das verwitterte Denkmal von 1968 mit der Inschrift: "Und setzet Ihr nicht das Leben ein – nie wird Euch das Leben gewonnen sein!"
KZ-Gedenkstätte in Planung
Anna Schüller hat schon vor Jahren begonnen, in Archiven zu recherchieren und Zeitzeugen zu befragen. Ihre Initiative "klick" und die Lagerarbeitsgemeinschaft KZ Sachsenburg e.V., in der auch Angehörige ehemaliger Häftlinge organisiert sind, arbeiten daran, dass hier eine Gedenkstätte entsteht, denn die gibt es noch nicht – nichts als das DDR-Denkmal und ein Gedenkstein erinnern und erzählen von diesem historisch bedeutsamen Ort.
Inzwischen steht auch die Stiftung Sächsische Gedenkstätten auf ihrer Seite. Der ehemalige Geschäftsführer der Stiftung, Siegfried Reiprich, sagte, eine Gedenkstätte KZ Sachsenburg sei "von überregionaler, ja europäischer Bedeutung“.
Abriss der Kommandantenvilla
Doch zuletzt gab es Streit um die ehemalige Kommandantenvilla. Anna Schüller hätte sich dort eine Ausstellung über die Geschichte der Täter gewünscht. "Von hier aus hatten die Kommandanten einen Blick auf den Appellplatz", sagt sie. Doch die Stadt Frankenberg lässt die inzwischen einsturzgefährdete Kommandantenvilla abreißen und schlägt als Kompromiss vor, die Umrisse des Gebäudes mit einer Stahlträgerkonstruktion nachzubilden.
Bis eine Gedenkstätte vor Ort eingerichtet ist, wird noch einige Zeit vergehen. Anna Schüller und "klick" haben deshalb eine virtuelle Gedänkstätte im Internet zugänglich gemacht: https://gedenkstaette-sachsenburg.de.
Der Artikel wurde zuerst am 25.09.2017 veröffentlicht und am 18.10.2022 aktualisiert.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 27. Juli 2022 | 11:35 Uhr