Wissenschaftsjahr 2020 Wie die Wissenschaft sich einen Platz am Küchentisch eroberte
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05. Dezember 2020, 12:00 Uhr
2020 – ein besonderes Wissenschaftsjahr und ganz anders, als wir es uns 2019 vorgestellt hatten. Damals dachten wir an die MOSAiC-Expedition, das Forschungsschiff, das in der Eisscholle durchs Polarmeer driftet. An außergewöhnliche Himmelserscheinungen, bahnbrechende Diabetesforschung, neues Wissen zum Klimawandel, aus der Insektenforschung... War irgendwie alles auch da, aber nicht der Grund, warum sich die Öffentlichkeit jeden Alters so sehr mit Wissenschaft beschäftigt hat wie 2020.
Hätte ich meinen Kindern 2019 beim Abendessen versucht zu erklären, welche Schritte vor der Einführung eines Impfstoffs stehen, hätte der Nachwuchs die Augen verdreht, unauffällig nach Handys getastet oder mit einem strategisch klugen "Ich muss noch was lernen" das Weite gesucht. 2020 kann es gar nicht ausführlich genug sein. Heute brummelt der 15-jährige auf dem Weg zum Frühstückstisch schon Sätze wie: "Komisch, der R-Wert geht in Deutschland einfach nicht runter" oder fragt: "Wie hoch ist eigentlich aktuell der Inzidenzwert für Leipzig?" 2019 hätte man sich bei solchen Fragen am Kaffee verschluckt. 2020 ist alles anders. Noch nie war Wissenschaft so spannend wie heute. Denn jeden Tag können Forschungsergebnisse und aktuelle Wissenschaftsdaten bedeuten, dass es früher in die Weihnachtsferien geht.
Das Frage-Karussell – warum einem manchmal schwummrig wird
Aber nicht nur das. Wissenschaft ist Teil unseres Alltags geworden und das spiegelt sich auch in unseren Gesprächen am Küchentisch wieder. Die Fragen der Kinder treiben uns Eltern so manche Schweißperle auf die Stirn. Wo kam nochmal das Virus her? Wo geht es hin? Heißt es das Virus oder der Virus? War da nicht was mit Blutgruppen, welche Blutgruppe habe ich, hast du, hat Papa? Was ist eine Blutgruppe? Hat jeder nur eine? Wie kommt das Virus von einem Wirt zum anderen? Wieso Wirt, gehen wir essen? Was ist ein Virus?
Es sind bizarre Fragestunden, die sich mit Kindern verschiedenen Alters da manchmal entspinnen. Sie erinnern an die Zaubertricks mit zusammengeknoteten Tüchern, die der Zauberer aus der Tasche zieht. Man zieht und zieht und mit jeder Antwort ploppt mindestens eine neue Frage aus der Tasche. Was kann die Ausbreitung verhindern, kann ein Impfstoff Infektionen vorbeugen, und wenn ja, wie lange hält der? Heißt einmal "Corona gehabt", wie die Kinder sagen, "ich krieg' s dann nie wieder"? Und wer kriegt zuerst eine Impfung? Was ist eine Krankenversicherung, gibt es die überall? Nein? Warum nicht? Warum sind manche Leute gegen Impfungen, warum tragen manche Leute Mund-Nasen-Schutz, als ich fünf war, musste ich keinen im Laden tragen, jetzt bin ich sechs, ich brauche dann also auch eine Maske. Welche Nebenwirkungen haben die Wirkstoffe? Was tun, wenn es mehr Schwerst-Erkrankte als Klinikbetten gibt, was wenn das Medizinpersonal fehlt, weil es selbst krank ist? Wie wirken sich die Schutzmaßnahmen aus? Wann ist Schluss mit dem Lockdown, wann ist Schluss mit den Masken? Was, du meinst, die sind im Winter vielleicht nützlich? Heißt das, du meinst, wir werden nächstes Jahr im Winter wieder Masken tragen? Warum gibt es immer verschiedene Statistiken? Warum stimmt nicht, was ich im Netz gelesen habe? Woher soll ich wissen, ob hinter der witzigen Schlagzeile auf einem Instagram-Bild eine wissenschaftliche Erkenntnis steckt? Warum soll es schlimm sein, wenn Kinder monatelang zuhause sind?
Wenn die Wissenschaften im Alltag andocken
Alles Fragen, die 2020 Wissenschaft und Forschung in unseren Alltag katapultiert haben. Es gibt Fragen zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendbrot, beim Spazierengehen und beim Zocken am Handy: "Guck mal, bei dem Spiel musst du das Virus am Ausbreiten hindern" - so eine Art digitaler Pacman 2020.
Sag mir, wo die Frauen sind
Das erste Halbjahr mit dem Virus hat Menschen sichtbar gemacht, die sonst ungestört in Forschungslaboren Antworten auf ungeklärte Fragen suchen. Jede Menge kluge Männer waren da zu sehen. Und wo sind die Expertinnen? Selbst wenn ich in Pressestellen explizit nach Gesprächspartnerinnen frage. Eine Pressesprecherin druckst herum auf meine Frage, warum in ihrer Experten-Liste zur aktuellen Corona-Forschung Frauen fehlen. "Ich weiß. Ist uns auch schon aufgefallen. Aber wir kriegen einfach keine, die sich als Ansprechpartnerin zur Verfügung stellt". Warum? Müsste ich die Wissenschaftlerinnen fragen. Würde ich auch gerne. Ist aber gerade nicht mein Thema. Aber irgendwann schon, schwöre ich mir: Welches Institut erforscht bitte das häusliche Bermudadreieck aus Homeoffice, Homeschooling, Haushalt, wie viele hochgebildete Forscherinnen verschluckt es jährlich? Vorerst bin ich einfach dankbar, dass es mich nicht verschlungen hat.
Wir bei MDR Wissen berichten nicht nur über aktuelle Corona-Forschung. Aber in anderen Feldern war es während des Lockdowns im Frühjahr genauso schwer, Forscherinnen ans Telefon zu kriegen. "Schreiben Sie Frau X an, die ist im Homeoffice und liest ihre Mails", rät ein Professor, den ich im seinem Büro der TU Chemnitz erreiche. Tatsächlich – sie beantwortet mir per Mail aus dem Homeoffice meine Fragen: Nachts, wenn alles schläft. Währenddessen mutieren an anderer Stelle männliche Virologen unverhofft zu "Pop-Stars", wie Oliver Welke in der "heute Show" frotzelt. Man solle von Paninibildern von Fußballern umsteigen auf "ein Pandemimi-Album mit Deutschlands coolsten Virologen".
Und das alles, obwohl die Forscher nur versuchen, Forschung zu erklären, Wissen zu verdichten, und für uns sinnvoll in Kontexte einzuordnen. Und ganz nebenbei erleben sie schmerzhaft am eigenen Leib, was Medien mit Menschen machen und umgekehrt. Eigentlich macht das ja die Medienwirkungsforschung. Aber bevor die das Thema durchleuchtet hat – merken wir ja grade alle, Forschung dauert – da stellt sich die Politik schützend vor die Virologen: CDU-Mann Friedrich Merz mahnt im August, man möge Virologen doch bitte nicht mit Politikern verwechseln. Als die Virologin, Professor Dr. Sandra Ciesek zusammen mit Christian Drosten ab September im NDR Podcast die Corona-Welt erklärt, wird sie vom "Spiegel" in einem Interview als "Quotenfrau" und "die Neue an Drostens Seite" abgekanzelt. Die Heftigkeit der Reaktionen verblüfft die Forscherin und Chefin der Frankfurter Uniklinik-Virologie. Schließlich sind Viren ihr Metier, nicht Medien.
Tempo halten – gründlich recherchieren – nachdenken: die Quadratur des Kreises
Apropos Medien. Redaktionen wie MDR Wissen versuchen, Antworten, Forschungsansätze und -Ergebnisse in eine Sprache zu übersetzen, die alle beim ersten Lesen, Hören oder Anschauen verstehen. Das braucht Zeit. Nicht nur, weil Ansprechpartner ja nicht Däumchen drehend auf unsere Anfragen warten.
Sie stecken knietief im Klinik- oder Labor-Alltag, brüten über Studienauswertungen und behalten – bestenfalls – selbst die Forschungen anderer im Auge. Sondern auch, weil auch wir im Thema stecken wollen, wenn wir Experten befragen. Das kostet Zeit. Aber wie lang darf es dauern? Kollege Zeitteufel sitzt uns im Nacken, manchmal heißt er "Die anderen haben das". Oder es heißt: Wer würde sich dazu bloß äußern, wer ist dafür Expertin? Manchmal dauert es eine Woche, bis wir den inhaltlich perfekten Ansprechpartner finden. Aber manchmal ist der dann in Elternzeit.
Wir geben auch Fragen unserer Nutzer an die Wissenschaft weiter. Wir begleiten die Forschungswelt, sichten Themen und sieben, verdichten Komplexes, und ringen dabei um die Balance zwischen Vereinfachung und Verzerrung: Was ist neu, was relevant, was eine Luftnummer? Stellen uns Debatten, wenn über die Wirkung von Medien, die Verantwortung des Journalismus gesprochen wird. Machen Quellen, unsere Arbeitsweise transparent und nachvollziehbar. Oder wie MDR-Intendantin Professor Karola Wille im Gespräch mit der "Zeit" unsere Arbeit beschreibt, wir zeigen, "wie Wissensstände entstehen, die nachvollziehbar sind, wie auch wieder verworfen werden und wie man teilhaben kann auch an Wissenschaftsentwicklung." Damit für Debatten gemeinsame Wissensstände als Basis vorhanden sind.
Wissenschaftsjahr 2020 – da war mehr als Pandemie
Womit 2020 als Wissenschaftsjahr also nur auf den ersten Blick ein Jahr der Virusforschung und Infektiologie war. Man "kennt" Virologen, streitet darum, wer aktuellere Zahlen zitiert, streitet um die Seriosität von Quellen. Das macht zwar im Alltag keinen von uns zur Wissenschaftlerin oder zum Wissenschaftler. Aber diese indirekte Teilhabe an Wissenschaft und dem Entstehen von neuem Wissen bereichert den Alltag. Egal, ob es um Virologie, Medienwirkung, Medizinethik, wirtschaftliche, gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge geht: Das wird uns bleiben aus dem Wissenschaftsjahr 2020. Neben noch nicht berechenbaren Nebenwirkungen der Pandemie liefert das Jahr fruchtbaren Nährboden für die Wissenschaft und die Gesellschaft im Jahr 2021. Denn 2020 war nicht nur ein Jahr voller Fragen, sondern auch Antworten aus der Wissenschaft und voller Debatten über große und kleine Fragen unserer Zeit.
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