Erneuerbare Energien Viel Wind um wenig? Über ein angebliches Windkraft-Aus in der Grande Nation
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05. April 2024, 16:46 Uhr
Ein Gericht hätte Windkraft in Frankreich kurzerhand illegal gemacht. Diese Meldung um ein "historisches Urteil" kursiert seit einigen Tagen durch sogenannte Alternativmedien und YouTube. Große Massenmedien haben es bisher als nicht berichtenswert erachtet. Aber warum bloß?
- Im Internet wird derzeit behauptet, ein Gericht hätte französische Windräder für illegal erklärt
- Dabei geht es um rechtswidrige Lärmschutzmaßnahmen beim Windparkbau
- Das Urteil hat aber keine Auswirkungen – aus einem einfachen Grund
Das klingt alles berechtigterweise nach Staubansatz und unter ferner liefen: Eine Entscheidung des französischen Verwaltungsgerichts zu Lärmmessprotokollen im Windkraftanlagenbau. Wahrscheinlich hätten wir diese Nachricht an dieser Stelle einfach weggenickt. Nun ist diese Meldung aber in den gar nicht mal so tiefen Untiefen des Internets auf Nährboden gestoßen, wo sie ein zünftiges Eigenleben entwickelt hat, das sämtliche französische Windkraftanlagen infrage stellt. Selbstverständlich mit dem entsprechenden Fingerzeig nach Deutschland. Und schließlich haben – kurz vor Redaktionsschluss – auch etablierte Medien von der Sache, nun, wie soll man sagen, Wind bekommen, was unsere Wahrnehmung bestätigt, dass wir einmal kurz darüber sprechen sollten.
Illegal, ganz egal oder vollkommen normal: Was ist los bei der Windkraft in Frankreich?
Die Geschichte beginnt dort, wo sie derzeit mehr oder weniger auch endet: Auf der etwas improvisierten Wordpress-Seite der FED. Das steht für Fédération Environnement Durable, Föderation für nachhaltige Umwelt, der zeitgeistliche Name einer französischen Umweltorganisation. Wobei Umweltorganisation ein Euphemismus ist, es scheint hier vor allem um die Verhinderung von Windkraftanlagen zu gehen, unter dem Deckmantel des Schutzes von Mensch und Natur. Zumindest hat der Vorsitzende Jean-Louis Butré bereits zwei Anti-Windkraft-Bücher verfasst.
Auf dieser Website ist nun zu lesen:
"Am 8. März 2024 erließ der Staatsrat [französisches Verwaltungsgericht] eine historische Entscheidung, indem er die Genehmigungen für Landwindkraftanlagen und die Regeln für die Erneuerung von Parks illegal machte."
Das klingt, mit Verlaub, nach einer Hiobsbotschaft mit historischer Tragweite für die Energiewende, die sich auch am französischen Energiemarkt zeigen dürfte. Fragen wir nach bei Norbert Allnoch. Norbert Allnoch hat auf dem Gebiet der Windkraft promoviert, beobachtet die Windenergiemärkte seit den Achtzigern (!) und ist Gründer des Internationalen Wirtschaftsforum Regenerative Energien (IWR). "Wir sehen keine Auffälligkeiten im französischen Windenergiemarkt", sagt Allnoch. Das bescheinige auch eine Stichprobe bei einem Unternehmen, das Windkraftanlagen in Frankreich plant: Es gebe keine Behinderung der Arbeit und Genehmigungsverfahren würden nicht in die Länge gezogen.
Das deckt sich, im Gegensatz zum Wortlaut der FED, mit der Berichterstattung zum Thema. Hi und da eine Notiz, aber eben nur ein ganz laues Lüftchen der Provence statt Sturm à la Bretagne.
Auch in Deutschland hat es die Urteilsverkündung bis knapp vor Redaktionsschluss in den etablierten Massenmedien nicht über den Wahrnehmungshorizont geschafft, erfreut sich aber nicht nur bei einschlägigen YouTube-Kanälen (siehe Audio zu diesem Text) und in User-Kommentaren größerer Beliebtheit, sondern auch in sogenannten "Alternativmedien". Das sind Angebote im Netz, aber auch am Kiosk, die für sich einen strengen Blick auf die Wahrhaftigkeit gesellschaftspolitischer Gemengelagen reklamieren, in Wirklichkeit aber häufiger durch Falschmeldungen aufgefallen sind. Deshalb sind dort dieser Tage Sätze zu lesen wie "Sämtliche Erlasse über Lärmschutzmessungen für Onshore-Windparks sind gesetzwidrig" und "Der französische Staatsrat hat dem Ausbau der Windkraft vorerst den Wind aus den Segeln genommen." Angeblich zum Wohle des Lärm- und Gesundheitsschutzes. Angebote mit derartigen Inhalten sind beliebt. Und weil das viele Menschen lesen, wird das Lüftchen um die französische Windkraft plötzlich dann doch relevant.
Windkraft und Frankreich – hüstel?
Schauen wir erstmal auf das, was ist. Und das ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ausbaufähig. So lag im vergangenen Jahr die Nettostromerzeugung aus Windkraft in Frankreich bei nur zehn Prozent, ein Wert, den wir in Deutschland vor zehn Jahren bereits überschritten haben. Hierzulande sind wir bei mittlerweile vierzig Prozent angekommen, was Wind zum wichtigsten Energieträger der Republik macht. In Frankreich ist es hingegen der gespaltene Atomkern. Über 67 Prozent der erzeugten Energie kamen 2023 aus Kernreaktoren. Wohlgemerkt in einem Jahr, in dem Hitze und Trockenheit dieser Form der Stromerzeugung zu schaffen machten – 2015 lag der Anteil noch bei 78 Prozent. Viele der französischen AKWs sind alt, Neubauten hingegen teuer und langwierige Unterfangen.
Auch deshalb wäre ein "historisches Windkrafturteil" alles andere als günstig. Beim Ausbau der Windkraft hat Frankreich mittlerweile ein mit Deutschland vergleichbares Tempo erreicht. Das zeigt eine Datenanalyse, die Sie in der zweiten Aprilwoche bei MDR WISSEN für ganz Europa einsehen können. Die Grande Nation scheint also inzwischen der Auffassung zu sein, ein Ausbau der Windenergie stünde ihr gut zu Gesicht. Was freilich nicht alle Menschen zwischen Dünkirchen und Saint-Tropez so sehen.
Zum Beispiel neben der FED noch 15 weitere französische Anti-Windkraft-Verbände, die vorgaben, vor dem französischen Verwaltungsgericht für die Interessen der Menschen hinsichtlich Lärmschutz bei Windkraftanlagen einzutreten. Dabei geht es nicht nur um Fragen der tatsächlich hörbaren Lärmerzeugung, sondern auch um durch Anti-Windkraft-Gruppen instrumentalisierten Infraschall. Diese unterhalb der menschlichen Hörfähigkeit liegenden Frequenzen werden zwar auch von modernen Windkraftanlagen in geringer Menge abgegeben, sind aber schon innerhalb der gesetzlich festgelegten Abstände der TA Lärm nicht mehr messbar. Autos und Flugzeuge, sondern deutlich mehr Infraschall ab.
Das Urteil hat erstmal überhaupt keine wirkliche Tragweite.
Tatsächlich beanstandet das französische Verwaltungsgericht sogenannte Lärmmessprotokolle in ihren neuen Fassungen von 2021, 2022 und 2023. Solche Protokolle sind im Grunde eine Standardisierung der Lärmmessverfahren beim Aufbau von Windkraftanlagen. Eine wichtige Sache und eine, die besser werden sollte, so das Ansinnen dieser neuen Fassungen. Zum Beispiel durch genauere Vorgaben zu den verwendeten Messgeräten. "Es geht hier nur um die Art und Weise, wie dieser Schall gemessen wird, damit immer alle Ingenieurbüros, die diese Messungen durchführen, gleiche Standards verwenden", betont Norbert Allnoch. Und er betont: Die gesetzlichen Grenzwerte standen gar nicht zur Debatte.
Kurzer Exkurs zur Sache: Die Differenz zwischen dem Umgebungslärm ohne Windkraftanlagen und dem Umgebungslärm mit einem in Betrieb befindlichen Windpark darf in Frankreich tagsüber plus fünf Dezibel und nachts plus drei Dezibel nicht überschreiten. In Deutschland ist hingegen die Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) maßgeblich.
Windräder in Frankreich: Was hatte das Gericht nun zu beanstanden?
Wenn also alles paletti ist, warum hat das Verwaltungsgericht die neuen Lärmmessprotokolle in ihren neuen Fassungen für nichtig erklärt? Die verbesserten Protokolle beziehungsweise Vorgaben zu den Messverfahren waren vor der Genehmigung nicht Gegenstand einer Anhörung der Öffentlichkeit, erklärt Norbert Allnoch, der sich für uns den Sachverhalt noch mal angesehen hat. "Und dieser Formfehler hat dazu geführt, dass eine Anpassung dieser Vorlage eben rechtsunwirksam ist."
Aber ist rechtsunwirksam gleich illegal? Nö. Das Urteil habe "erstmal überhaupt keine wirkliche Tragweite. Die alten Vorgaben, wie jetzt die Lärmmessung erfolgen sollen, sind weiterhin gültig." Also das alte Lärmmessprotokoll von 2011. Und das ist die wirklich kleine, aber entscheidende Information, die von einigen Seiten ausgespart wurde: Eine Rechtslücke existiert nicht und Windparks sind nicht illegal.
Zu dieser Erkenntnis kommt auch das Nachrichtenportal des kommerziellen und größten französischen Fernsehsenders TF1, und zitiert vorsichtshalber die Erkenntnisse einer französischen Anwaltskanzlei und den Direktor für Strategie beim Verband France Renouvelables, der abermals betont, dass bestehende und geplante Windparks nicht infrage stünden. Welche Folgen hat das Urteil also wirklich? Man werde den Formfehler korrigieren und die neuen Messprotokolle auf den Weg bringen, sagt Norbert Allnoch: "Es wird jetzt wahrscheinlich ein neues Verfahren geben, wo die Öffentlichkeit eben nicht nur bei den Entwürfen berücksichtigt wird, sondern eben auch bei der Entscheidung."
Fertig, aus. Echt jetzt.
Fast. Die Frage ist nur noch, welche Rolle Windräder auf dem französischen Land überhaupt in Zukunft einnehmen. Denn Windparks auf See machen sich in Frankreich mit seinen langen Küsten gut. Präsident Emmanuel Macron hat 2022 angekündigt, bis zum Jahr 2050 rund fünfzig Offshore-Windparks mit vierzig Gigawatt Leistung zu schaffen. Und draußen auf dem Meer, da wohnt ja meistens niemand direkt daneben.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 06. April 2024 | 00:00 Uhr
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