Menschen campieren in einem öffentlichen Park nachdem Erdbeben Istanbul und andere Gebiete der Türkei am Mittwoch erschüttert haben. 1 min
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Seismologie Hat das Superbeben in Istanbul begonnen? Warum Erdbebenvorhersage schwierig ist

24. April 2025, 16:56 Uhr

Ein schweres Erdbeben hat am Mittwoch Istanbul erschüttert, seitdem kommt es zu Nachbeben. Ist das Schlimmste überstanden? Oder droht nun das lang erwartete Superbeben? Beides sei möglich, sagen Geoforscher.

Es war das schwerste Erdbeben in Istanbul seit mehr als 25 Jahren: Am Mittwoch (23. April) erschütterten Erdstöße mit einer Stärke von 6,2 auf der Richterskala die Metropole am Bosporus. Das Epizentrum lag dabei im Marmarameer. Seither kam es zu weiteren Nachbeben mit einer Stärke von 5,2 und 4,6. Ursache der Stöße ist eine Verwerfung, von der Geologen seit vielen Jahren annehmen, dass hier ein noch viel stärkeres Beben entstehen könnte.

Erdbeben Istanbul: Das eigentliche Superbeben könnte noch kommen

"Insgesamt ist auf dieser Verwerfung Energie für ein Erdbeben der Magnitude bis zu 7.4 gespeichert", sagte Marco Bohnhoff vom Potsdamer Geoforschungszentrum (GFZ). Bohnhoff und seine Kollegen in der Türkei versuchen aktuell mit Hilfe der verfügbaren Daten herauszufinden, ob die Beben die aufgestaute Energie entladen haben, oder ob es umgekehrt sogar zu einer weiteren Steigerung gekommen ist. Die Nachbeben deuten laut den Geologen aber darauf hin, dass das eigentliche Superbeben erst noch bevorsteht. Laut einem Bericht der Tagesschau rät der Geologe Celâl Şengör von der Technischen Universität Istanbul, nun sei "der Zeitpunkt erreicht, Istanbul zu verlassen".


Verwerfung Eine sogenannte Verwerfung ist eine bestehende Bruchstelle in der Erdkruste. Hier stehen sich verschiedene Schollen der Erdkruste gegenüber. Dabei können Gesteinsschichten um hunderte Meter verschoben werden, wenn tektonische Kräfte wirken.

Mit Sicherheit vorhersagen lassen sich solche Erdbeben allerdings nicht. Forschende arbeiten zwar intensiv an Warnsystemen, die Menschen in betroffenen Regionen möglichst früh alarmieren sollen. Sie suchen dafür seit Jahrzehnten nach sicheren Anzeichen, die ein kommendes Beben ankündigen, aber bisher war keiner der Ansätze wirklich verlässlich. Also bleibt nur die frühe Warnung, wenn es zum Beben kommt.

Ansätze zur Erdbeben-Frühwarnung: Messung seismischer Wellen

In Gebieten, die in einer Gefahrenzone für Erdbeben entlang der Grenzen tektonischer Platten liegen, sind häufig regionale Warnsysteme installiert. Dort erfasst ein System an Sensoren im Boden direkt Erschütterungen. Denn bei einem Beben entstehen verschiedene Arten seismischer Wellen – unter anderem die Kompressionswelle (P-Welle) mit geringer Schwingung und die Scherwelle (S-Welle). Die S-Welle ist die gefährliche Welle, die für die Zerstörungen sorgt. Zwischen den beiden Wellen liegen laut Seismologie-Professor Stefano Parolai von der Universität Triest nur wenige Sekunden. "Je weiter man davon entfernt ist, desto mehr Zeit bleibt für einen Alarm", erklärt er.

Wenn man allerdings sehr nah am Epizentrum sei, erreiche einen der Alarm später als die gefährliche S-Welle. Ist das betroffene Gebiet weit genug weg, um vorab gewarnt zu werden, wird der Alarm direkt durch die Echzeit-Signale des Beobachtungsnetzwerkes ausgelöst. Die verknüpfte Infrastruktur schaltet dann unter anderem auch Strom- und Gasleitungen aus, stoppt Züge und warnt die Industrie.

Erdbebengefahr in Istanbul: Kann künstliche Intelligenz helfen?

Die seismischen Messungen können jedoch auch an dem Ort gemacht werden, der vor dem Erdbeben geschützt werden soll – also zum Beispiel in einer Stadt wie Istanbul oder an einer Industrieanlage. Dann registrierten die Messgeräte die P-Welle, so Parolai, und leiteten daraus ab, wie stark die S-Welle etwa werde und lösten dementsprechend sofort Maßnahmen aus.

Starke Erdbeben können mit maschinellem Lernen und der Auswertung von Schwerkraftsignalen in Echtzeit genau abgeschätzt werden, sagen französische Forscher. Sie haben im vergangenen Jahr eine Methode vorgestellt, bei der sie Signale nutzen, die man "Prompte Elastogravitationssignale" (PEGS) nennt. Diese sind das Ergebnis plötzlicher Gesteinsverschiebungen und verursachen kurzfristige Veränderungen der Schwerkraft. Und das besonders Wichtige an diesen PEGS ist: Sie bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit, was eine schnellere Erfassung und Auswertung ermöglicht als bei den seismischen P- und S-Wellen. Mithilfe eines KI-Algorithmus ist es dem Forschungsteam gelungen, diese Signale für ein Warnsystem zu nutzen, das acht Sekunden schneller ist, als das beste Messsystem für seismische Wellen.

Elektromagnetische Signale in der Atmosphäre: Ein Vorbote von Erdbeben?

Ein häufig debattierter Ansatz ist die Veränderung elektromagnetischer Signale in der Ionosphäre. Die können Erdbeben anscheinend auslösen und sie werden deshalb als mögliche Vorboten für größere Beben in Betracht bezogen. Tatsächlich konnten solche Änderungen auch schon erfolgreich mit Erdbeben in Verbindung gebracht werden, aber als Warn-Methode haben sie sich bisher als unzuverlässig erwiesen.

Eine andere häufig diskutierte Frage ist, ob einige Tiere schon praktisch eine Art "sechsten Sinn" haben und vor uns Menschen wissen, dass die Erde gleich beben wird. Mehrere Forschungsprojekte beschäftigen sich mit den anekdotischen Beobachtungen von flüchtenden Kröten oder nervösen Ziegen. Die Fachleute vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ haben sich die Studien zum seltsamen Verhalten der Tiere ganz genau angeschaut. Doch bisher gelang es noch keiner Forschungsgruppe, tatsächlich Erdbeben durch systematische Tierbeobachtungen zuverlässig vorherzusagen.

Gefahr von Erdbeben: Tiere reagieren vielleicht auf kleine Vorbeben

Die Max-Planck-Gesellschaft forscht im Projekt ICARUS an einem Frühwarnsystem der Tiere. Das liegt jedoch aufgrund des russischen Krieges in der Ukraine auf Eis. Denn die Daten werden auf der Raumstation ISS per Antenne gesammelt und kamen bis zum März 2022 aus Moskau. Danach war Schluss.

In manchen Fällen kündigen kleinere Vorbeben ein größeres Beben an. Das ist auch eine mögliche Erklärung für das seltsame Verhalten einiger Tiere, vermuten Fachleute. Womöglich spüren sie die und werden dadurch aufgeschreckt. Natürlich können wir Menschen diese Vorbeben auch messen, aber ob es sich dabei wirklich um eines gehandelt hat, weiß man natürlich erst nach dem Hauptbeben mit Sicherheit. Und außerdem hat nicht jedes große Erdbeben solche Vorbeben.

Radon: Tritt vor einem Erdbeben radioaktives Gas aus dem Boden aus?

Andere Untersuchungen weisen auf einen Anstieg der Radonkonzentration im Vorfeld eines Erdbebens hin. Doch auch das ist kein verlässliches Zeichen: Dieser Anstieg hat sich nur in wenigen Fällen überhaupt mit seismischer Aktivität in kausale Verbindung bringen lassen. Je nach Entfernung zum Epizentrum unterschieden sich die Messwerte so sehr, dass sich bisher kein aussagekräftiger Zusammenhang nachweisen ließ.

Forschende versuchen außerdem Erdbeben mithilfe statistischer Methoden vorherzusagen. Dazu nutzen sie die Daten aus der Vergangenheit und untersuchen Häufigkeit und Stärke vieler kleiner Erdbeben, die Messinstrumente zwar registrieren, aber die der Mensch normalerweise nicht spürt. Doch auch das ist bisher wenig erfolgreich: Keine dieser statistischen Auswertungen liefert bisher Ergebnisse, die sich zur Vorhersage von Erdbeben eignen würde.

Erdbebengefahr in Istanbul: Nordanatolische Verwerfungszone besonders heikel

Um tatsächlich irgendwann einmal eine Erdbeben-Vorhersage entwickeln zu können, fordert die Wissenschaft bessere Forschungsmöglichkeiten. Ein Team von Seismologen und Seismologinnen hat deshalb den Bau von "Schlüssel-Observatorien" in der Nähe von geologischen Störungszonen an Land und auf dem Meeresboden vorgeschlagen.

Das deutsche GFZ betreibt seit 2024 gemeinsam mit dem türkischen Katastrophenschutz AFAD am Marmarameer eine neue Messstation, um Anzeichen für das bereits seit vielen Jahren erwartete Superbeben besser erkennen zu können. Das Meer und die Metropole sind Teil des aktiven nordanatolischen Verwerfungssystems – einer großen tektonischen Plattengrenze, die für zerstörerische Erdbeben bekannt ist. Der Hauptarm der Verwerfung verläuft direkt zwischen Istanbul und der Armutlu-Halbinsel etwas weiter südlich und wird als "seismische Lücke" bezeichnet.

Erdbeben im Marmarameer: Gezeiten als Auslöser

Das Team um Patrizia Martínez-Garzón vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ hat sich in einer vor zwei Jahren publizierten Studie mit der Änderung des Meeresspiegels im Marmarameer beschäftigt. Dafür haben sie dort seismische Daten erhoben und analysiert. Für diese Analyse haben sie neue Verfahren der Künstlichen Intelligenz und der Bildverarbeitung eingesetzt, denn die seismischen Effekte, die durch die natürlichen Schwankungen des Meeresspiegels ausgelöst werden, seien so gering, dass die Daten nur so aufgespürt werden konnten. Und dennoch zeigten sie: Die Änderung des Meeresspiegels kann Erdbeben auslösen.

Geografische Karte, auf der mit Pfeilen die Verwerfungslinien der Nordanatolischen Verwerfung eingezeichnet sind.
Die nordanatolische Verwerfung verläuft genau an der Millionenstadt Istanbul. Bildrechte: Image reproduced from the GEBCO world map 2014, www.gebco.net

Tatsächlich könnten die Tatsache, dass seismische Effekte bei so schwachen auslösenden Kräften überhaupt auftreten, darauf hindeuten, dass die Verwerfungen in dem untersuchten Gebiet kurz vor dem Versagen stehen, so das Forschungsteam. Dann könnten weitere Erdbeben ausgelöst werden. Das heißt, die Analysen des Teams könnten wiederum ein Schritt hin zu einer besseren Gefährdungsvorhersage sein.

Aktualisierung Eine erste Version dieses Beitrags erschien nach dem Erdbeben im Jahr 2023 im Südosten der Türkei. Wir haben den Hintergrundbericht angesichts der neuen Erdstöße in Istanbul aktualisiert.

Link zur Studie

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 24. April 2025 | 14:34 Uhr

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