Persönlich oder politisch? Der Anschlag von Magdeburg: Warum ist es kein Terrorismus?
Hauptinhalt
24. Januar 2025, 12:56 Uhr
Ein Attentat, wie das auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg, bei dem sechs Menschen getötet wurden, wirft viele Fragen auf. Handelte es sich hier um eine terroristische Tat? Nein, sagt Generalbundesanwalt Jens Rommel. Anders als etwa der Messerangriff auf dem Marktplatz in Mannheim, oder beim Stadtfest in Solingen. Beim tödlichen Messerangriff in Aschaffenburg wird über Motiv und Verantwortung gerade erst diskutiert. Aber was genau ist Terrorismus und wann wird eine Tat als solcher eingestuft?
Ein Bild, das kurz vor Weihnachten in den Medien Angst auslöst: Ein Autofahrer rast durch eine Menschenmenge auf einem Weihnachtsmarkt und tötet sechs Menschen. Über 200 weitere Personen werden verletzt, einige davon schwer. Die Tat erschüttert das Land und lässt viele Fragen offen.
Mittlerweile gibt es neue Erkenntnisse: Generalbundesanwalt Jens Rommel erklärte in einem Interview mit der Tagesschau, dass der Vorfall nicht als Terrorismus eingestuft werde. Eine klare Abgrenzung zu früheren Fällen wie dem Messerangriff auf dem Marktplatz in Mannheim oder dem Angriff auf das Stadtfest in Solingen einige Monate später. Während beim tödlichen Messerangriff in Aschaffenburg noch über das Motiv und die Verantwortung diskutiert wird, bleibt eine zentrale Frage im Raum: Was genau ist Terrorismus – und nach welchen Kriterien wird eine Tat als solche bewertet?
Die Herausforderung einer Definition
Der Begriff "Terrorismus" leitet sich vom lateinischen Wort "terror" (Schrecken, Furcht) ab. Dieses Phänomen wird in der Wissenschaft intensiv diskutiert und bleibt umstritten. Dr. Kristin Weber, Kriminologin und Soziologin am Zentrum für Kriminologische Forschung Sachsen e.V., betont, dass die Definition von Terrorismus stark von verschiedenen Faktoren abhängt und schwer eindeutig zu fassen ist. Ihre Forschungsschwerpunkte – Radikalisierungs- und Terrorismusforschung – verdeutlichen, dass vor allem die Perspektive, aus der Terrorismus betrachtet wird, eine zentrale Rolle spielt.
Obwohl die Eingrenzung des Begriffs "Terrorismus" schwierig ist, hebt Weber wesentliche Merkmale hervor, die für die Definition entscheidend sind: Terrorismus ist eine Gewalttat, die darauf abzielt, Zivilisten einzuschüchtern, das Vertrauen in den Staat zu schwächen und die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder das friedliche Zusammenleben zu gefährden. Dazu gehört auch, die Fähigkeit des Staates zu untergraben, seine Bevölkerung effektiv zu schützen.
Gerade diese Komponente scheint in diesem Fall nicht gegeben zu sein. Rommel erklärte gegenüber der Tagesschau, dass der Beschuldigte zwar viele Kontakte mit staatlichen Stellen hatte, aber auch mit zahlreichen anderen Personen und Institutionen in Konflikt stand. Daher werde die Tat eher als Amokfahrt aus persönlicher Frustration gewertet und weniger als gezielter politischer Angriff.
Angst als Kommunikationsstrategie
Wichtig für die Einordnung von Terrorismus ist daher die Zielsetzung der Tat. Dieser Aspekt unterscheidet Terrorismus von anderen Formen der Gewalt, wie etwa Hasskriminalität. Terroristische Akte verfolgen Weber zufolge politische, religiöse, ideologische oder wirtschaftliche Absichten. Ziel ist es, diese durch den Einsatz von Gewalt durchzusetzen.
Unabhängig von den zugrundeliegenden Überzeugungen steht bei terroristischen Taten stets die öffentliche Botschaft im Vordergrund. Durch die Publizität ihrer Gewaltakte versuchen Terroristen, Druckmittel, Einfluss und Macht zu erlangen, um politischen Wandel auf regionaler oder internationaler Ebene zu bewirken. Die Motivation liegt häufig darin, möglichst viele Menschen an symbolträchtigen Orten zu verletzen, die maximale Aufmerksamkeit zu erregen, um Furcht zu verbreiten – auch bei Unbeteiligten. Politisch motivierte Anschläge wie 9/11 zeigen, dass Gewalt trotz höchster Sicherheitsvorkehrungen verheerende Folgen haben kann. "Angst und Schrecken stehen ganz stark im Mittelpunkt", erklärt Weber. Ziel sei es, Menschen so einzuschüchtern, dass sie sich von der Teilhabe am öffentlichen Leben abhalten lassen.
Sympathisanten gewinnen und instruieren
Eine weitere Funktion solcher Taten ist die Gewinnung von Sympathisanten oder die Motivation anderer zu ähnlichen Taten. Als Teil dieser Kommunikationsstrategie hinterlassen Täter häufig Botschaften wie Bekennerschreiben, um ihre Taten zu rechtfertigen. Der Attentäter von Halle 2019, der versuchte, einen Massenmord an jüdischen Menschen zu verüben und dabei mehrere Personen tötete, filmte seine Tat. "Es soll vermittelt werden: 'Ihr könnt euch anschließen.' Jeder kann teilnehmen, selbst wenn man sich keiner bestimmten Gruppe zugehörig fühlt. Dabei kann man einzelne Elemente der Ideologie herausgreifen und für sich nutzen", erklärt Weber.
Im Fall des Attentats in Magdeburg bleiben viele Fragen offen, insbesondere hinsichtlich der Klärung des Motivs, das entscheidend für die Einordnung der Tat ist. Weber betont jedoch, dass die Tat aufgrund fehlender Informationen bislang keiner Ideologie eindeutig zugeordnet werden kann. Ihre Einschätzung zufolge erinnert der Einsatz eines Kraftfahrzeugs an das Vorgehen bei islamistischen Anschlägen. "Aber der Täter scheint keine islamistisch-jihadistische Ideologie zu besitzen, sondern den Islam eher abzulehnen", erklärt die Terrorismusexpertin. Eine rechtsextreme Ideologie wird derzeit vermutet, ist jedoch noch nicht bestätigt. Sicherheitsbehörden untersuchen auch derzeit weiter in welchem Umfang beim Täter eine psychische Störung oder Erkrankung vorliegt.
Die Anziehungskraft extremistischer Ideologien und die Gründe, warum sich Menschen terroristischen Gruppen anschließen, sind zentrale Themen in Webers Forschung. Wesentliche Treiber der Radikalisierung sind, ihrer Dissertation zufolge, psychosoziale Belastungen, Orientierungslosigkeit und Identitätskrisen. Betroffene suchen dabei nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Verständnis und oft auch nach einem Lebenssinn. Diese Faktoren sind jedoch nicht ideologisch gebunden: "Das Milieu kann rechtsextrem, linksextrem oder islamistisch sein. Entscheidend ist häufig, ob bereits Kontakte zu radikalen Kreisen bestehen", erklärt Weber. Auch der Einfluss von Gleichgesinnten und die Dynamik innerhalb von Gruppen spielen eine entscheidende Rolle.
Radikalisierung sei laut Weber weder an Geschlecht noch Herkunft gebunden. "Täter und Opfer gibt es in allen Bevölkerungsgruppen."
Wenn Angst in Gewalt umschlägt
Noch bevor alle Informationen über den Anschlag in Magdeburg bekannt waren, wurden in der Stadt zunehmend Menschen mit Migrationsgeschichte Opfer rassistischer Übergriffe. Berichte des MDR zeigen, dass diese Angriffe direkt mit dem Attentat in Zusammenhang standen. Der Sozialpsychologe Claas Pollmanns, Experte für Radikalisierung und Extremismus, warnt eindringlich vor den Folgen solcher Entwicklungen.
Pollmanns erklärt, dass die Dynamik, die nach dem Attentat entstand, auf einem fundamentalen Attributionsfehler beruht. In Bedrohungssituationen neigen Menschen dazu, ihre eigene Gruppe (In-Group) positiv darzustellen, während Taten innerhalb dieser Gruppe individualisiert oder entschuldigt werden. Im Gegensatz dazu werden Taten der Fremdgruppe (Out-Group) pauschal auf die gesamte Gruppe projiziert, wodurch negative Stereotype verstärkt werden. Diese Projektionen, so Pollmanns, dienen oft dazu, Diskriminierung, Gewalt oder Vergeltungsakte gegen die Fremdgruppe zu rechtfertigen – obwohl die Grenzen zwischen den Gruppen letztlich gesellschaftlich konstruiert sind.
Angst und Bedrohung, die in solchen Situationen entstehen, sind nicht immer rational. Pollmanns erklärt: "Die Wahrscheinlichkeit, selbst Opfer eines Terroranschlags zu werden, ist in Deutschland sehr gering. Dennoch überschätzen wir diese Gefahr stark, während wir andere, realere Gefährdungssituationen unterschätzen." Diese Verzerrung, so Pollmanns, zeigt, wie Ängste von gesellschaftlichen oder politischen Akteuren manipuliert werden können, um Vorurteile zu verstärken und gesellschaftliche Spannungen zu verschärfen. Für ihn sei es entscheidend, nicht auf die Provokation solcher Attentate einzugehen. Der zwischenmenschliche Kontakt zwischen vermeintlichen Fronten sei wichtig, um "die Lücke zwischen den Identitäten und der Polarisierung wieder zu schließen.", so Pollmanns.
Dieses Thema im Programm: MDR S-ANHALT | Sachsen-Anhalt-Heute | 22. Januar 2024 | 19:00 Uhr
Not Found
The requested URL /api/v1/talk/includes/html/71d7c3c4-7804-4df5-b977-715c98360333 was not found on this server.