Bestattung und Natur Leerstand auf dem Friedhof: Welche Zukunft hat der Gottesacker?
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28. Mai 2024, 11:25 Uhr
Über Jahrhunderte war die Bestattung geprägt von Traditionen. Kleine Revolutionen wie die Einäscherung brauchten lange, um sich durchzusetzen. Doch inzwischen hat sich unser Verhältnis zu Abschied und Tod gewandelt. Zunehmend weicht das "Es gehört sich doch so" den individuellen Bedürfnissen in der Trauer. Das hat auch Konsequenzen für die Friedhöfe, die inzwischen mit vielen Alternativen konkurrieren müssen. Stellt das ihre Zukunft in Frage?
Wenn meine Lebenszeit vorüber ist, wo möchte ich dann sein? Immer mehr Menschen setzen sich mit dieser Frage intensiv auseinander, möchten sich auf diese Weise eine Perspektive über den Abschied hinaus schaffen. Auch wenn bei uns in Deutschland ausgenommen von Bremen nach wie vor die Pflicht besteht, Verstorbene auf einem Friedhof oder an einem dafür gewidmeten öffentlich zugänglichen Ort zu bestatten, eröffnen sich doch verschiedene Möglichkeiten für die letzte Ruhe: auf See, in der Schweiz auf einer Almwiese, am Fuße eines Baums im Friedwald oder als Diamant. Für all diese Alternativen steigt die Nachfrage und dafür braucht man keine Grabstelle auf einem der 32.000 Friedhöfe hierzulande.
Wie umgehen mit Leerstand auf dem Friedhof?
Auch die Tatsache, dass Urnenbeisetzungen inzwischen 78 Prozent der Bestattungsarten ausmachen, führt dazu, dass auf den Friedhöfen immer weniger Fläche für ihre ursprüngliche Bestimmung gebraucht wird. Zwar gibt es keine Erhebung, die zeigt, wie viele Hektar dadurch deutschlandweit frei bleiben, doch vielerorts ist der Wandel augenscheinlich. Dort, wo einst Grabstelle an Grabstelle war, entstehen heute Wildblumenwiesen oder gemähte Rasenflächen, teilweise gesäumt von Insektenhotels und Bienenstöcken.
Doch damit lässt sich wirtschaftlich kaum eine Zukunft sichern. Aber wie könnte sie aussehen, diese Zukunft? Dazu haben sich Forschende der Humboldt-Universität, der Technischen Universität Berlin sowie Stadtplaner im Rahmen einer Tagung ausgetauscht. Anlass dazu war unter anderem die Tatsache, dass zum Beispiel die Stadt Berlin inzwischen einen Leerstand von etwa einem Drittel seiner Friedhofsflächen zu verzeichnen hat: 340 Hektar, was 476 Fußballfeldern entspricht und gerade im Ballungsgebiet kostbarer Grund und Boden ist.
Friedhof neu gedacht: Bauland, Park oder Acker?
Die Flächen angesichts der Wohnungsnot in den Städten kurzerhand in Bauland umzuwidmen, läge nahe. Doch abgesehen davon, dass der Grund und Boden auf einem Friedhof ja nur Stück für Stück und auch nicht lückenlos frei wird, ginge damit verloren, was Friedhöfe außer einer Begräbnisstätte noch sind: Inseln der Ruhe, der Erholung, der kühlenden Frische in hitzigen Sommern, Orte der Naturerfahrung und des kulturellen Gedächtnisses, Hotspot der Artenvielfalt. Alles in allem übernehmen Friedhöfe also auch die Rolle eines Ökosystemdienstleisters.
Landschaftsarchitektin Sylvia Butenschön weist darüber hinaus auf die herausragende und sehr lebendige Bodenqualität hin: "Auf Friedhöfen findet sich unter anderem oft ein guter Gartenboden, in der Fachsprache Hortisol oder Nekrosol genannt, der humusreich, locker, von Pilzen, Bakterien, Würmern und Insekten bevölkert ist sowie Nährstoffe, Wasser und CO2 speichert." Hinzu kommt ein besonderer Pflanzenbestand, den es so woanders gar nicht gibt: Bis zu 150 Jahre alte Bäumen und darüber hinaus Gehölze, Büsche, Stauden, Blumen und Gräser, die speziell für den Gottesacker ausgewählt wurden, alles immergrüne Gewächse, die die Unvergänglichkeit der Seele symbolisieren. Dadurch habe sich hinter den Friedhofsmauern ein ganz spezielles Biotop entwickelt, so Butenschön.
Gärtnern auf dem Friedhof: Kohlköpfe auf dem Gottesacker?
Diese besonderen Areale nicht als Bauland umzuwidmen, sondern sie als Grünflächen zu erhalten, darüber sind sich Wissenschaftler und Stadtplaner weitgehend einig. Dennoch sei es wichtig, jeden Friedhof im Einzelnen mit all seinen Besonderheiten zu betrachten, bevor man über eine andere Nutzung nachdenke, so Butenschön. Dafür seien die historische und kulturelle Bedeutung der Anlage genauso wichtig wie Tier- und Pflanzenarten, die sich dort angesiedelt hätten. Wie viel Friedhof darf bleiben? Wie viel Park soll daraus werden? Das sind die Fragen, um die sich die Debatte dreht.
Immer intensiver wird neuerdings auch eine gärtnerische Nutzung nicht mehr gebrauchter Friedhofsflächen in Betracht gezogen. Inwiefern es jedoch pietätlos ist, auf ehemaligen Gräbern Kohlköpfe anzubauen, diese Diskussion müsse in der Gesellschaft noch geführt werden, so die Sylvia Butenschön. Der Gedanke, sie als Orte der Artenvielfalt zu stärken, ist allerdings inzwischen weitverbreitet schon Realität.
Dafür haben einige Verwaltungen sogar ihre Satzung geändert, erlauben zum Beispiel keine Steinabdeckungen und Unkrautfolien mehr. So sollen Sickerflächen zu geschaffen werden und Platz für blühende, insektenfreundliche Pflanzen. Wildblumenwiesen werden als Bienenweiden ausgewiesen, um den Nachfragen nach einem gemähten Rasen zuvorzukommen. Fledermauskästen bieten Quartiere für die nachtaktiven Tiere, Kirchtürme werden in Zusammenarbeit mit dem Naturschutzbund NABU für Turmfalken und andere Gebäudebrüter offen gehalten und auf manchen Friedhöfen wie zum Beispiel in Leipzig Connewitz wird sogar geimkert.
Friedhöfe stehen auch Mitteldeutschland unter Druck
Auch wenn es keine umfassenden Zahlen dazu gibt, die die Situation der Friedhöfe in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen vollumfänglich widerspiegeln, zeichnet sich auch hier augenscheinlich ein Leerstand ab. Vor allem in ländlichen Gebieten verwaisen die kleinen Dorffriedhöfe durch schwindende Einwohnerzahlen regelrecht. Die Verwaltungen von kirchlichen Friedhöfen in Sachsen-Anhalt und Thüringen geben an, dass pro Friedhof und Jahr die Anzahl der Beisetzungen durchschnittlich im unteren einstelligen Bereich liegt. Sie gehen sogar davon aus, dass es künftig noch weniger sein werden. Doch der Pflegeaufwand und die Unterhaltskosten für die Anlagen bleibt, trotz sinkender Einnahmen.
Unstrittig ist, die Friedhöfe als Orte des Trostes und der Erinnerung zu erhalten, deshalb wurde die Friedhofskultur auch zum immateriellen Kulturerbe ernannt. Doch das allein wird nicht ausreichen, ihre Zukunft zu sichern. Es gilt, die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen in Trauer mit einer Perspektive für die Friedhöfe in Einklang zu bringen. Einigen gelingt das, indem sie neue Wege gehen: zum Beispiel die Bestattung am Fuße eines Baums auch auf dem Friedhof ermöglichen, die Beerdigung von Haustieren erlauben oder Gemeinschaftsgrabanlagen anbieten, die dennoch individuell gestaltet sind. Dafür ist die Nachfrage groß, besonders bei Menschen, deren Angehörige weit weg wohnen, die keine Nachfahren haben oder niemanden mit der Pflege einer Grabstelle belasten wollen.
Einer weiteren Herausforderung müssen sich die Friedhöfe stellen: dem Klimawandel. Pflanzen, die dort über viele Jahrzehnte für die Gestaltung üblich waren, haben in Anbetracht von Hitze und Trockenheit kaum noch eine Chance. Sich darauf einzustellen und dennoch den historischen gewachsenen Charakter der Anlagen weitestgehend zu erhalten, das ist eine Herausforderung, denen sich Landschaftsgärtner und Versuchsgärtnereien gegenübersehen.
Links/Studien
Weitergehende Informationen zur Geschichte der Friedhofskultur bietet unter anderem das Museum für Sepulkralkultur.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 27. Mai 2024 | 20:05 Uhr
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