Uni Halle untersucht Biodiversität Ökologische Schieflage: Ein paradoxes Phänomen bedroht Deutschlands Artenvielfalt
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19. Oktober 2022, 17:00 Uhr
Obwohl die biologische Vielfalt weltweit im alarmierenden Tempo verlorengeht, stellen viele Studien auf lokaler Ebene keine signifikanten Rückgänge bei Tier- und Pflanzenarten fest. Doch der Schein trügt. Ein Team unter Leitung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) hat sich dieses Paradox genauer angeschaut und eine besorgniserregende Entwicklung für Deutschlands Biodiversität festgestellt.
Es ist ein paradox klingendes Phänomen, dass man sich ein oder zwei Mal durch den Kopf gehen lassen muss, bevor man dahinter steigt und auch die Tragweite versteht: Weltweit schrumpft die Artenvielfalt in alarmierendem Tempo. Doch auf lokaler Ebene können viele Studien keinen großen Verlust an Tier- und Pflanzenarten feststellen. Wie kann das sein? Forschende unter Leitung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) und des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) haben versucht diese Frage zu beantworten und ihre Ergebnisse im Fachmagazin Nature veröffentlicht.
Trotz guter Bilanz sind bedenkliche Verluste nicht ausgeschlossen
Ein genauerer Blick ist notwendig. Denn, "das heißt nicht, dass die Entwicklungen nicht besorgniserregend sind", warnt Prof. Helge Bruelheide vom Institut für Biologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Man müsse schauen, um welche Arten es sich handelt. Werden beispielsweise in einem Moor oder auf einer Magerwiese die speziell angepassten Überlebenskünstler von weit verbreiteten Arten verdrängt, bleibt die Zahl der Arten in der Bilanz häufig gleich. Trotzdem geht damit ein Stück Vielfalt verloren, weil sich die einst sehr unterschiedliche Vegetation verschiedener Lebensräume immer ähnlicher wird.
Mehr Verlierer als Gewinner in Deutschland
Um herauszufinden, wie dieser Trend in Deutschland aussieht, haben die Forschenden Daten ausgewertet, die von zahlreichen Fachleuten aus einer Vielzahl von lokalen Studien zusammengetragen wurden. Mehr als 7.700 Flächen, deren Pflanzenbestand mehrfach zwischen 1927 und 2020 erfasst wurde, wurden betrachtet.
"Solche Zeitreihen können sehr wertvolle Informationen liefern", sagt Dr. Ute Jandt, ebenfalls vom Institut für Biologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. "Denn auf oft nur zehn oder zwanzig Quadratmeter großen Parzellen können sehr genaue botanische Zählungen durchgeführt werden. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Pflanzen in solchen Parzellen unbemerkt verschwinden oder wieder auftauchen."
Die Forschenden erhielten dadurch Informationen über insgesamt fast 1.800 Pflanzenarten. Das Ergebnis: Bei 1.011 Pflanzenarten zeigte sich ein negativer und bei 719 ein positiver Bestandstrend. In den letzten 100 Jahren gab es also 41 Prozent mehr Verlierer als Gewinner.
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Pflanzen in solchen Parzellen unbemerkt verschwinden oder wieder auftauchen.
Analyse mit Hilfe ökonomischer Werkzeuge
Darüber hinaus stellten die Forschenden fest: "Die Verluste sind gleichmäßiger auf viele Verlierer verteilt, während sich die Gewinne auf weniger Gewinner unter den Arten konzentrieren. Das war ein überraschendes Ergebnis", erklärt Prof. Helge Bruelheide.
Ablesen konnten die Forschenden das anhand des Gini-Koeffizienten. Dieser wird normalerweise zur Analyse von Vermögensverteilungen benutzt und zeigt zum Beispiel, dass in vielen Ländern der Welt wenige reiche Menschen immer reicher und viele arme Menschen immer ärmer werden. Ähnlich sieht es leider auch in der deutschen Pflanzenwelt aus. Die frostempfindliche Stechpalme zum Beispiel gehört zu den glücklichen Gewinnern. Sie hat im Zuge des Klimawandels immer mehr an Boden gewonnen.
Zwischen den späten 1960er-Jahren und dem Beginn des 21. Jahrhunderts war das Ungleichgewicht zwischen Zu- und Abnahme am stärksten. Eingeläutet wurde es durch die starke Intensivierung der Landnutzung.
Ein weltweiter Trend?
Ob diese Ergebnisse auf andere Regionen der Welt übertragbar sind, lässt sich nicht sagen. Prof. Stefan Dullinger vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien hält es allerdings für möglich: "In weiten Teilen Österreichs ist mit einer ähnlichen Entwicklung in den letzten hundert Jahren zu rechnen." Das Team plädiert dafür, ähnliche Datensätze aus aller Welt zu sammeln und auszuwerten. Denn die ungleichmäßige Verteilung von Gewinnen und Verlusten kann ein frühes Warnzeichen für einen Wandel der biologischen Vielfalt sein, der letztendlich zum Aussterben von Arten führt.
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