Nutzungsvielfalt in Innenstädten Einkauf und Gastronomie genügen nicht
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07. Oktober 2022, 15:55 Uhr
Hohe Mieten, sinkende Umsätze - Gastronomie und Handel in zentralen Lagen haben es immer schwerer. Es müssen andere Anreize geschaffen werden, in die Innenstadt zu gehen, fordert das Deutsche Institut für Urbanistik.
In einem sind sich wohl alle Städte einig: Die Innenstadt soll nicht nur geografisches Herz sein, sondern auch wie ein Herz für pulsierendes Leben stehen. Aber wenn man in diesem Bild bleibt, muss man konstatieren, dass das Herz langsamer schlägt als noch vor einigen Jahren. Das liegt an der Corona-Pandemie, aber nicht nur.
Wenn man Menschen fragt, warum sie der Innenstadt einen Besuch abstatten, dann ist zwar noch immer der Einkaufsbummel der häufigste Grund, gefolgt vom Restaurant- oder Café-Besuch.
Aber mehrere Überlegungen liegen durch diese Befragungsergebnisse von mehr als 50.000 Menschen in 107 deutschen Innenstädten auf der Hand. Zum einen wird deutlich, dass für viel mehr ältere Menschen der Einkaufsbummel noch ein Anreiz ist als für jüngere. Letztere shoppen vermutlich viel lieber und häufiger im Internet.
Außerdem wurden ja nur Menschen befragt, die gerade in der Innenstadt waren. Über die vielen, die gar keinen solchen Anreiz verspüren und der Innenstadt fernbleiben, sagt das nichts aus. Da ist eine Befragung der Einzelhändler sinnvoller, die den Kundenschwund immer deutlicher spüren. Diejenigen Händler mit einem Standort in der Innenstadt sind von allen die unzufriedensten.
Die logische Gedankenkette für Stadtplaner wie Wissenschaftler lautet deshalb: Wenn immer noch Handel und Gastronomie die größten Anreize sind, die Stärke dieser Anreize aber deutlich nachlässt, müssen andere Anreize geschaffen werden, wenn man lebendige Innenstädte möchte.
Hier steht man vor einem nicht nur weiten, sondern riesigen Feld von Möglichkeiten, was es nicht leichter macht, die richtige(n) zu wählen. Welche Angebote aus dem möglichen Nutzungsspektrum macht man den Menschen? Bildung, Freizeit, Verwaltung, Kunst und Kultur, Religion, Produktion, Gesundheit, Soziales, Hotellerie, Büros, Wohnraum - oder vielleicht doch einfach Handel und Gastronomie stärken?
Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) hat nun eine wissenschaftliche Studie vorgelegt, die so umfangreich ist, dass man sie nur schwer auf wenige Kernaussagen reduzieren kann. Schon der zusammenfassende Video-Vortrag einer der Autorinnen dauert etwas mehr als zehn Minuten. Aber er lohnt sich, wenn man dieses facettenreiche Thema besser verstehen will.
Voraussetzung für alle Kommunen sei ein klares "Zielbild" für die langfristige Entwicklung der Innenstadt, heißt es in der Studie. "Damit die Innenstadt die Stadtgesellschaft verbindet, braucht es eine Vielfalt an Angeboten und Anlässen - von 'Hochglanz' bis 'ohne Glanz' - um das Verweilen für alle zur Normalität werden zu lassen", sagt Difu-Wissenschaftlerin Julia Diringer. Die Nutzungsvielfalt müsse also erweitert werden durch Dinge, die es bislang nur in anderen Gegenden der jeweiligen Stadt gibt, zum Beispiel Bildung, nichtkommerzielle Kultur- und Freizeitangebote, soziale Einrichtungen oder auch Wohnungen.
Die Studie spricht sich auch für eine Multifunktionalität von Gebäuden und Flächen aus. Was morgens ein Markt ist, könnte abends zur Bar oder Kneipe werden. Zumindest ist das ein Beispiel, das anderswo funktioniert.
Transformationsbausteine
In der Difu-Studie werden sechs zentrale "Transformationsbausteine" benannt, denen derzeit noch zu wenig Bedeutung zugemessen werde. Sie seien es aber, die "frischen Wind" in die Innenstädte tragen können. Sie lauten: Klimaanpassung, Klimaschutz, Mobilitätswende, sozialer Zusammenhalt, Kreislaufwirtschaft und Gemeinwohlorientierung.
Viele davon könnten für einen angenehmeren Aufenthalt sorgen. Wenn man zum Beispiel an den heißen Sommer dieses Jahres denkt, wünschte man sich in vielen Städten weniger versiegelte Flächen, mehr Grün und mehr Bäume oder Schatten spendende Konstruktionen.
Eine stärkere Ausrichtung der Innenstadt auf das Gemeinwohl ist laut Difu-Studie notwendig, um unsoziale Logiken des Immobilienmarktes zu durchbrechen und Zugänglichkeit, breite Nutzungsmischung und bezahlbare Flächen für Kleingewerbe, Handwerk, Kunst, Kultur und Soziales zu ermöglichen.
Auch die Autofreiheit von Innenstädten wäre zumindest ein Experiment wert, legt die Studie nahe. Natürlich müsse die Innenstadt trotzdem gut erreichbar sein. Unter diesen Voraussetzungen wären vermutlich sogar viele Autofahrer bereit, auf ihren fahrbaren Untersatz zu verzichten, wie eine Umfrage nahelegt.
Welche Rolle eine zeitgenössische Innenstadt dann tatsächlich ausfüllt, müsse stadtindividuell entschieden werden. Aber "die jetzt notwendige Transformation kann sich für Kommunen als Chance erweisen, die Stadtgesellschaft in diesen wichtigen Prozess einzubinden", sagt Difu-Wissenschaftlerin Sandra Wagner-Endres. Für "frischen Wind in der Innenstadt" brauche es große Ideen und die Bereitschaft, mutige Entscheidungen zu treffen.
Links/ Studien
Das Deutsche Institut für Urbanistik bietet seine Studie "Frischer Wind in die Innenstädte - Handlungsspielräume zur Transformation nutzen" hier im PDF-Format zum Download an.
(rr)