Buchtipp der Woche Die Stadt für alle
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24. Juli 2022, 15:00 Uhr
Ein Architekt mit Abschluss in Konzeptkunst, ein Papiermodelle bauendes Künstler-Duo und ein Fotograf denken über lebenswerte Städte nach – und die stadtbegeisterte MDR WISSEN-Autorin Inka Zimmermann findet, es ist ein wichtiger Impuls, heute schon die Weichen für morgen zu stellen: „Die Stadtplanerinnen und Stadtplaner der Zukunft, das sind wir alle!“
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Melting pot oder Metropolis 2.0?
Städte sind möglicherweise die aufregendsten Orte der Gegenwart: Wo derart viele Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammenkommen und sich austauschen, entsteht schon fast zwangsweise Innovation. Denn gemeinsam neue Dinge zu entwickeln, ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Städte schaffen die nötige räumliche Nähe – nicht umsonst sagt der Soziologe Armin Nassehi: "Alles, was wir modern nennen, ist in Städten geboren". Aber es gibt auch eine Kehrseite: Leben in einer Stadt bedeutet oft auch, sich mit exponentiell steigenden Mietpreisen zu arrangieren, mit verschmutzter Luft, verstopften Straßen und zunehmend menschenfeindlicher Hitze im Sommer. An schlechten Tagen fühlt man sich mitunter an die futuristische Stadt Metropolis aus dem Stummfilm von Fritz Lang erinnert: Ein moderner Ort, sicher – aber kein Platz für Menschen.
"Die Stadt für alle" ist ein Buch, das die Kehrseiten unserer Städte benennt. Aber aufgeben will Autor Osamu Okamura das urbane Leben deshalb noch lange nicht – also müssen Lösungen her! Dieses Buch steckt voller konstruktiver Ideen, wie wir unsere Städte im 21. Jahrhundert verbessern können.
Planen Sie mit!
Okamura will mit "Die Stadt für alle" ein "Handbuch für angehende Stadtplanerinnen und Stadtplaner" liefern. Aber keine Sorge, ein akademischer Hintergrund in Urbanistik ist keinesfalls nötig, um an diesem Buch Freude zu haben. Die Botschaft ist vielmehr: Die Stadtplanerinnen und Stadtplaner der Zukunft, das sind wir alle. Denn wenn wir schon in Städten wohnen und arbeiten, also täglich intensiv mit ihnen konfrontiert sind, dann sollten wir uns auch einmischen dürfen, wenn es darum geht, wie die Städte der Zukunft aussehen.
"Die Stadt für alle" liefert viele Ideen, wie wir das Leben in unseren Städten verbessern können. Nicht alle dieser Ideen sind komplett neu. Beispielsweise die "Multimodale Straße"– nicht nur für Kraftfahrzeuge, sondern mit Platz für Fußgänger, Radfahrer und vielleicht ein paar Pflanzen. Autos raus aus der Stadt, man kennts. Aber man schaut es sich hier dann doch gerne noch einmal an, denn dieses Buch punktet mit absolut bezaubernden Grafiken und Fotografien.
Was fürs Auge
Das Künstlerduo David Böhm und Jiří Franta entwarf eigens für das Buch unzählige kleine Papiermodelle mit Szenen aus einer städtischen Umgebung. Detailreiche Miniaturlandschaften, die auf den Fotografien (Pavel Horák) im Buch aber ganz groß aussehen – und ein bisschen nach Wimmelbildern, in denen der aufmerksame Betrachter fortwährend neue Einzelheiten entdecken kann.
Aber auch jenseits der Illustrationen und Fotografien ist dieses Buch "visually pleasing". Eine höchst gelungene Kombination aus moderner Farbgebung (neon-orange trifft schwarzweiß) und aufregenden Schriftarten (Sequel, Tusker, Rhymes, fett, kursiv usw.). Dass hinter "Stadt für alle" Menschen mit einem besonderen Gespür für Design stehen, ist unübersehbar. Deshalb überrascht es auch kaum, dass der tschechisch-japanische Buchautor Osamu Okamura studierter Architekt ist – aber auch einen Abschluss in Konzeptkunst hat.
Grundsätzlich dürfte es unter Stadtplanerinnen und Stadtplanern für ein wenig Skepsis sorgen, dass nun ausgerechnet ein Architekt uns erzählt, wie wir die Stadt der Zukunft planen sollen. Osamu Okamura lässt die soziologischen Aspekte des menschlichen Zusammenlebens in Städten aber keineswegs außen vor. Bis 2017 war er Programmdirektor der International Urban Conference und des Stadtentwicklungs-Festivals reSITE in Prag.
Städte sind demokratische Orte
Am Ende des Buches bleibt hängen: Die Stadt der Zukunft ist bedroht. Privatisierung, Gentrifizierung, Umweltprobleme und monofunktionale Planung könnten dafür sorgen, dass unsere Städte in zehn Jahren deutlich weniger lebenswert sind. Aber dabei darf man nicht vergessen: Diese Probleme sind Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Wer sich durchsetzt, ist noch lange nicht geklärt. Das macht Städte zu inhärent politischen Orten. Im Vorwort des Buches wird der amerikanische Soziologe Richard Sennett erwähnt, der sagt: Kinder, die in Städten aufwachsen, hätten eine größere Chance, demokratische Bürger*innen zu werden, weil sie es physisch lernen würden, sich mit sehr unterschiedlichen Menschen und Interessen auf engem Raum zu arrangieren. Das ist natürlich eine sehr optimistische Einschätzung – aber "Die Stadt für alle“ versucht zu vermitteln: Wenn wir es richtig angehen, können unsere Städte lebenswerter, gerechter und sozialer werden. Und damit vielleicht tatsächlich ein wenig demokratisches Flair verbreiten.
Was das Buch aber darüber hinaus auch vermittelt: Selbst wenn es uns erst einmal nicht komplett gelingt, unsere urbanen Räume in ökologische, aufgeräumte und effiziente Organismen zu verwandeln – auch im Chaos unserer irgendwie dahingewachsenen Städte liegt eine gewisse Schönheit. Das Buch ist am Ende auch eine Liebeserklärung an unsere Städte, die hoffentlich immer etwas zutiefst Menschliches haben werden. Denn schlussendlich sind es nicht Betonbauten, die sie ausmachen, sondern die diejenigen, die in ihnen wohnen.
Die Rezensentin MDR WISSEN-Autorin Inka Zimmermann liebt Städte. Man sieht so viel Neues! Ihre Lieblingsstrategie: sich vom Trubel immer weiter durch überfüllte Straßen und Parks treiben lassen. Weil derartige Reizüberflutung aber nicht jedermanns Sache ist, empfiehlt sie dieses Buch – nicht nur für erschöpfte Stadtbewohner*innen, sondern auch für politisch Verantwortliche. Denn dass wir unsere Städte ein wenig stressfreier gestalten müssen, steht außer Frage. Immerhin werden bis 2050 nach Prognose der UN zwei Drittel der Menschheit in Städten leben. Damit das dann noch Spaß macht, müssen jetzt die Weichen gestellt werden.
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