Wissenschafts-Philosophie Wissenschaft: Objektiv und allgemeingültig?

05. Mai 2021, 14:49 Uhr

Die Wissenschaft ist durch die Corona-Pandemie plötzlich ein Alltagsthema. Wir fragen jeden Tag aufs Neue: Was haben die Forscherinnen und Forscher herausbekommen und stimmt das alles? Denn vieles, was gesagt wird, ist ein paar Wochen später schon wieder anders. Auch innerhalb der Wissenschaft gab und gibt es unterschiedliche Positionen. Wie objektiv ist Wissenschaft und wie berechtigt ist es, wenn wir von der Wissenschaft allgemeingültige, feststehende Antworten erwarten?

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Wenn wir Menschen vor 150 Jahren gesagt hätten, dass Corona von einem Virus verursacht wird, hätten die uns groß angeschaut. Virus? Was ist ein Virus? Und auch heute wüssten wir nur, dass sich die Krankheit irgendwie verteilt, wenn wir mit anderen zusammenkommen. Wenn uns nicht die Wissenschaft sagen würde, was genau läuft. Mathias Frisch, Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Uni Hannover:

Wissenschaft liefert uns Modelle, Abbilder der Welt, die für verschiedene Zwecke sehr gut oder sogar hervorragend funktionieren, sehr verlässlich sind.

Prof. Mathias Frisch, Wissenschaftsphilosoph

Wie Wissenschaft die Welt abbildet

Wissenschaft soll uns die Welt verstehen lassen. Und zwar so, wie sie wirklich ist. Mit sicheren Fakten, bei denen sich alle, die sich damit beschäftigen, einig sind. Warum gibt es dann trotzdem selbst innerhalb der Wissenschaft immer wieder unterschiedliche Auffassungen? Weil Wissenschaft so einfach leider nicht ist.

Es gibt in der Öffentlichkeit zwei Wissenschaftsbilder, die beide verkehrt sind. Nämlich ein Bild, das Wissenschaft eher so wie Mathematik versteht, dass Wissenschaft wirklich unumstößliche, beweisbare Erkenntnisse liefert. Und wenn man dann merkt, dass Wissenschaft das nicht kann, schlägt es oft in einen Gegenpol um, dass man sagt, in Wissenschaft ist überhaupt nichts gesichert.

Mathias Frisch

Mathias Frisch zitiert das Bild von der Wissenschaft als Gebäude, das auf Pflöcken in einem Sumpf errichtet wird. Jede Erkenntnis macht die Pflöcke ein bisschen stabiler.

Es kann natürlich auch sein, dass das wieder ein bisschen mehr einsackt, da muss man wieder nachbessern. Da sieht man auch diese Fehlbarkeit der Wissenschaft. Letztendlich trägt dann dieses Fundament, aus Pflöcken gebildet, obwohl es nicht auf einem letztlich festen Fundament ruht.

Mathias Frisch

Wissenschaft ist ein Prozess

Ist das nun eine gute oder eine schlechte Nachricht? Wissen wir die Dinge oder wissen wir sie nicht? Jein. Wir kommen ihnen einfach immer näher. Wissenschaft ist ein Prozess, sagt die Psychologin und Kommunikationsforscherin Maren Urner.

Ich sage ganz bewusst Prozess, weil es in der Wissenschaft nicht darum geht zu sagen, das ist jetzt so, sondern immer darum geht: das ist der aktuelle Stand, auf dem wir gerade sind.

Prof. Dr. Maren Urner, Kommunikationsforscherin

Corona lässt uns den Prozess live miterleben. Innerhalb eines reichlichen Jahres ist das Virus entschlüsselt und wir haben Impfstoffe. Andererseits suchen wir zwischen Lockdown, Kontaktnachverfolgung oder Massentests immer noch den besten Weg, Ansteckungen zu vermeiden. Auch die Wissenschaft streitet. Unterschiedliche Positionen bedeuten aber nicht Beliebigkeit, betont Wissenschaftsphilosoph Mathias Frisch.

Von Unsicherheit und Fehlbarkeit darauf zu schließen, dass man einfach alles sagen kann und jede Ansicht irgendwie gleichberechtigt ist, das ist ein großer Fehler. Es gibt immer noch einen großen Unterschied zwischen wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen und irgendwelchen bloßen Meinungen.

Mathias Frisch

Mehr Fakten - mehr Objektivität

Auch bei Corona stützt sich die Wissenschaft auf Erkenntnisse. Weil aber die Faktenlage in manchen Fragen noch dünn ist, können Forschende gar nicht anders, als in den Restunsicherheiten persönliche Abwägungen zu treffen. Genau hier schlägt die Stunde der Wissenschaft, die an dem Punkt nicht stehenbleibt. Stück für Stück, quasi vor unser aller Augen, kommen mehr Fakten zusammen. Der Bereich, in dem Forschende auf eigene Vermutungen angewiesen sind, wird kleiner. Es gibt immer mehr Objektivität. Auf diese Weise, mit Messen, Studieren, Bewerten, Überprüfen und neu Untersuchen schafft die Wissenschaft ein immer genaueres Bild der Welt. Können wir irgendwann alles wissen? Natürlich nicht, sagt Kommunikationsforscherin Maren Urner.

Weil es eben nie der Fall ist, dass wir endgültige Antworten finden können, sondern uns immer auf einem Weg befinden, um besser zu verstehen, was da draußen und mit uns eigentlich passiert.

Maren Urner

Wissenschaft bildet eine Momentaufnahme ab

Vielleicht gibt es irgendwann eine völlig andere Art, mit einem Virus umzugehen. Oder wir brauchen die gar nicht, weil wir Mittel finden, uns gegen krankmachende Viren komplett immun zu machen. Alles zukünftig denkbar. Nach heutigem Stand ist ein Virus wie das aktuelle Coronavirus ein Krankheitserreger. Die Wissenschaft konzentriert sich darauf, es zu bekämpfen. Weil das uns Mittel gibt, mit den aktuellen Herausforderungen umzugehen, ist das für den Moment objektiv richtig. Denn genau so viel kann Wissenschaft leisten, sagt Wissenschaftsphilosoph Mathias Frisch.

Wissenschaft ist objektiv, bietet ein objektives Bild, indem sie eben für bestimmte Zwecke hervorragend funktionierende Modelle liefert, aber eben nicht ein perfektes 1:1-Abbild der Wirklichkeit. Und das kann auch gar nicht der Anspruch der Wissenschaft sein.

Mathias Frisch

Um die Wirklichkeit 1:1 abzubilden, müssten wir sie bis ins Letzte kennen. Das ist aber unmöglich, weil wir selbst Teil der Wirklichkeit sind. Jeder Erkenntnis in uns ändert auch die Welt und stellt uns vor neue Fragen.

Ein Porträt von Prof. Dr. Annette Leßmöllmann 15 min
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Wie hat sich die Wissenschaftskommunikation verändert? Was müssen Wissenschaft, Politik und Journalismus überdenken? Ein Gespräch mit Prof. Dr. Annette Leßmöllmann.

MDR KULTUR - Das Radio So 02.05.2021 10:08Uhr 14:52 min

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