USA 232 Millionen Arbeitsfehltage pro Jahr wegen Alkohol
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19. März 2022, 15:00 Uhr
Je mehr Alkohol man trinkt, umso häufiger bleibt man der Arbeit fern. Insgesamt fehlen der US-Wirtschaft dadurch jährlich 232 Millionen Arbeitstage. Zu diesen Schlüssen kommt eine neue Langzeitstudie nach Auswertung vieler Statistiken und Befragungen.
Wenn man diese Rechnung auf Deutschland übertrüge, käme man auf eine Größenordnung von 50 bis 60 Millionen Arbeitsfehltagen hierzulande. Ist das realistisch?
232 Millionen – eine riesige Zahl. So viele Arbeitstage fehlen den USA jedes Jahr, weil die Bevölkerung Alkohol zu sich nimmt. Das wird in einer neuen Studie vorgerechnet. Die zweite Erkenntnis: je schwerer die Alkoholabhängigkeit, umso mehr Fehltage bei der Arbeit.
Die Autorinnen und Autoren um Laura J. Bierut und Ian C. Parsley haben für ihre Studie Befragungsdaten aus den Jahren 2015 bis 2019 von mehr als 110.000 Vollzeitbeschäftigten zu Rate gezogen. Man entschied sich bewusst ausschließlich für den Zeitraum vor der Pandemie, um Daten für einen "normalen" Arbeitsalltag zu generieren, ohne mögliche Lockdown-Verzerrung.
Vier Stadien der Abhängigkeit
Die Vollbeschäftigten wurden in vier Gruppen eingeteilt, entsprechend ihrer Trinkgewohnheiten bzw. der Schwere der Alkoholabhängigkeit. Diese Daten wiederum kamen aus Untersuchungen der Behörde für Drogenmissbrauch und psychische Gesundheit (Substance Abuse and Mental Health Services Administration). Dabei wurde die Alkoholabhängigkeit anhand einer Reihe von Fragen bewertet, z. B. ob eine Person versucht hat, mit dem Trinken aufzuhören, es aber nicht geschafft hat, ob sie wegen des Alkoholkonsums lange Zeit krank war oder ob sie auch nach einem "Filmriss" weiter getrunken hatte.
Diejenigen, die die Kriterien der Abhängigkeit überhaupt nicht erfüllten, wurden der ersten Gruppe ("keine Alkoholabhängigkeit") zugeordnet und dienten dann mit ihren durchschnittlich 13 Fehltagen pro Jahr als Vergleichsgruppe zu den drei restlichen Gruppen ("leichte", "mittlere" und "schwere Alkoholabhängigkeit).
Deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen
Beim Vergleich der Arbeitsfehltage der verschiedenen Gruppen stellte sich eine ganz klare Tendenz dar: Je schwerer die Abhängigkeit, umso mehr Fehltage. Bei schweren Alkoholikerinnen und Alkoholikern waren es etwa zweieinhalbmal so viele wie bei den Abstinenten.
Eine weitere rechnerische Erkenntnis aus diesen Daten lautete: Menschen mit Alkoholproblemen machen etwa 9,3 Prozent der US-amerikanischen Vollzeitbeschäftigten aus, diese 9,3 Prozent sind aber für 14,1 Prozent aller Arbeitsfehltage verantwortlich.
Wenn man nun wie die Studie davon ausgeht, dass diese Menschen so wie Gruppe eins nur durchschnittlich 13 Tage pro Jahr der Arbeit fernblieben, wenn sie kein Alkoholproblem hätten, dann ergibt sich die Gesamtzahl von etwa 232 Millionen Arbeitsfehltagen wegen Alkohols.
Vergleich mit Deutschland schwierig
Man könnte nun versuchen, die Zahlen der US-Studie auf Deutschland umzurechnen. In den USA gibt es etwa 125 Millionen Vollzeitbeschäftigte, in Deutschland etwa 27 Millionen. Bei gleichen Alkoholgewohnheiten, -problemen und -auswirkungen kämen dann etwa 50 Millionen Arbeitsfehltage in Deutschland heraus. Außerdem könnte man noch einfließen lassen, dass der Alkoholkonsum hierzulande pro Kopf etwas höher ist.
Setzt man diese Werte noch ins Verhältnis, könnten in Deutschland sogar knapp 60 Millionen fehlende Arbeitstage auf Alkoholabhängigkeit zurückzuführen sein.
Doch so einfach ist das natürlich nicht. Denn beide Länder unterscheiden sich in vielen Belangen: Gesundheitssystem, Bevölkerungsstruktur und Arbeitsmarkt zum Beispiel. Vor allem aber ist das Grundniveau der Arbeitsfehltage in Deutschland deutlich geringer. Während es in den USA, wie oben gesehen, die Gruppe mit "keiner Alkoholabhängigkeit" schon auf 13 Fehltage pro Jahr bringt, bleibt die gesamte deutsche Arbeitnehmerschaft (inklusive aller Alkoholikerinnen und Alkoholiker) nur zehn bis elf Tage pro Jahr der Arbeit fern.
Wenn man aussagekräftige Zahlen für Deutschland ermitteln wöllte, wären neue Studien nötig. Versuche gab es in der Vergangenheit, aber auf völlig andere Weise als jetzt in den USA. So kam die Techniker-Krankenkasse in ihrem Gesundheitsreport 2013 (hier als PDF) durch eine Hochrechnung aus ihren eigenen Versicherten-Zahlen zu dem Schluss, dass es bundesweit jährlich etwa 1,8 Millionen Arbeitsfehltage wegen Alkohols geben dürfte.
Korrelation, Kausalität und viel Graubereich dazwischen
1,8 Millionen sind natürlich eine völlig andere Größenordnung als 232 Millionen (bzw. die auf Deutschland "umgerechneten" hypothetischen 50 bis 60 Millionen). Das dürfte vor allem an den verschiedenen Herangehensweisen der Untersuchungen liegen. Während die US-Studie rein statistisch von außen beobachtet und somit erst mal nur die Korrelation zwischen Alkohol und Fehltagen feststellen kann, hat die Techniker-Krankenkasse 2013 nur solche Fälle gezählt, bei denen der Arbeitsausfall ausdrücklich (laut ärztlicher Diagnose) auf den Alkohol zurückzuführen war, wo also eine definitive Kausalität vorlag.
Ist eine der beiden Herangehensweisen richtig und die andere falsch? Oder liegt die Wahrheit wie so oft irgendwo dazwischen? Und was ist mit Studien wie der von 2018, auf die sich gemäßigte Trinkerinnen und Trinker vielleicht gern berufen? Damals wurde für Finnland, Frankreich und das Vereinigte Königreich (aus allerdings recht alten Daten) statistisch festgestellt, dass zwar schweres regelmäßiges Trinken zu vielen Fehltagen führt, dass aber diejenigen, die "moderate Trinker" genannt wurden, weniger Arbeitsfehltage zu verzeichnen hatten als die komplett Abstinenten. Moderates Trinken bedeutete dort bei Frauen bis zu elf Einheiten pro Woche und bei Männern bis zu 34, wobei eine Einheit zehn Milliliter bzw. acht Gramm reiner Alkohol sind, was in etwa einem kleinen Glas Wein oder einer 0,33-Liter-Flasche Bier entspricht.
In einem sind sich aber alle Studien einig: Zu viel Alkohol schadet der Gesundheit, dem Bruttosozialprodukt und möglicherweise auch der eigenen Jobsicherheit. Oft verlören Angestellte mit schweren Alkoholproblemen wegen der vielen Fehltage ihre Arbeit, sagt Laura J. Bierut, Leiterin des "Washington University Health & Behavior Research Center" und Mit-Autorin der neuen US-Studie. Sie hofft aber, dass der Arbeitsplatz wiederum eine Anlaufstelle sein könnte, wo man eingreifen und helfen kann. "Man ist acht Stunden am Tag dort, und wenn ein Arbeitgeber diese Schwierigkeiten bemerkt, könnte er vielleicht, anstatt eine Person zu entlassen, Maßnahmen ergreifen, um die Genesung dieser Person zu unterstützen", so die Wissenschaftlerin.
(rr)
Link zur Studie:
Parsley IC, Dale AM, Fisher SL, Mintz CM, Hartz SM, Evanoff BA, Bierut LJ: "Workplace absenteeism associated with alcohol use disorder from the National Survey on Drug Use and Health 2015-2019", erschienen in: JAMA Network Open