Die Vorbereitungen zur Räumung des Dorfes Lützerath laufen auf Hochtouren.
Beim Braunkohleabbau fallen gewaltige Mengen Abraum-Material an. Bildrechte: IMAGO / Panama Pictures

Energieversorgung Brauchen wir die Lützerather Kohle? Was die Wissenschaft sagt

12. Januar 2023, 17:23 Uhr

Die noch nicht abgebaute Kohle unter Lützerath erhitzt die Gemüter. Wird sie wirklich gebraucht oder reicht vielleicht schon die Kohle aus dem Tagebau Garzweiler II, um den Stromkohlebedarf zu decken?

Rechtlich und politisch ist die Sache durch: Lützerath wird geräumt und die Kohlebagger rollen an. Auch wenn das dem Image Deutschlands als Klimaschützer extrem schadet, wie Klimaökonomin Claudia Kemfert sagt. Sie fordert in ihrem Podcast bei MDR AKTUELL einen Stopp des geplanten Kohleabbaus in Lützerath

Wie nötig wird die Kohle unter dem Örtchen Lützerath gebraucht: Was sagen Wissenschaft, Studien, Gutachten? Dazu gibt es verschiedene Standpunkte. Forscher der Europa-Universität Flensburg, der Technischen Universität Berlin und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (darunter auch Claudia Kemfert) haben im Auftrag der Initiative Europe Beyond Coal (Europa jenseits der Kohle) die Auswirkungen der Gasknappheit auf die Auslastung der Kohlekraftwerke Hambach und Garzweiler II untersucht und dem Bedarf mit und ohne die Kohle unter Lützerath gegenübergestellt. Das Fazit dieser DIW-Studie: Der Kohlebedarf aus dem Tagebau Garzweiler kann ohne die Kohle unter Lützerath gedeckt werden. Selbst bei maximaler Auslastung im Zeitraum 2022 bis 2030 würden 271 Mio. Tonnen Braunkohle verbraucht. Diesen Bedarf würde aber der Kohlevorrat von ca. 301 Mio. Tonnen aus dem bereits genehmigten Bereich des Tagebaukomplexes Hambach und Garzweiler II decken und es würden sogar noch 30 Millionen Tonnen zurückbleiben.

Anders sieht es eine Untersuchung, die das Energieunternehmen RWE in Auftrag gegeben hat. In der BET-Studie werden drei Szenarien des nötigen Braunkohlebedarfs durchgespielt für den Zeitraum 2022 bis 2030. Die Studie "Gasknappheit: Auswirkungen auf die Auslastung der Braunkohlekraftwerke und den Erhalt von Lützerath" kommt zu einem anderen Schluss: Selbst beim niedrigsten angenommenen Bedarf reichten demnach die Fördermengen ohne die Lützerather Kohle nicht aus. Dem Gutachten zufolge fehlten in jedem Fall mindestens 17 Millionen Tonnen Braunkohle. Insbesondere 2023 werde es infolge der Gasknappheit zu einer noch größeren Differenz kommen.

Ob Lützerath oder ein anderer Ort: Es wird Abraum-Material gebraucht

Professor Dr. Manfred Fischedick, Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie erklärte, warum die Braunkohle unter Lützerath auch an anderer Stelle wichtig sei: Der Abraum, der beim Abbaggern von Lützerath entstünde, werde für den benachbarten Tagebau Garzweiler I zum Auffüllen gebraucht. Hier könne kein Restsee entstehen, da versauerungsfähiges Material ohne Kalkung in der Grube angeschüttet worden sei. Ein Restsee wäre daher nicht lebensfähig und würde sofort "versauern". Auch zur Befestigung nahegelegener Tagebau-Abbruchkanten brauche es den Abraum aus Lützerath, damit das Material nicht über weite Strecken herangekarrt werden müsste. Wissenschaftler Fischedick spinnt den Faden weiter: "Zum Erhalt von Lützerath müssten dann andere Orte im Tagebau weichen – eine Entscheidung, wenn man so will, zwischen Pest und Cholera."

Lützerath ist nicht das Zünglein an der CO2-Waage

Dr. Wilfried Rickels, der das Forschungszentrum Global Commons und Klimapolitik, Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel (IfW) leitet, meint: "Die CO2-Emissionen, die entstehen, wenn die Kohle unter Lützerath verstromt wird, haben keine Auswirkungen darauf, ob das 1,5-Grad Ziel erreicht wird oder nicht. Unabhängig davon, dass das Abkommen von Paris keine nationalen CO2-Budgets beinhaltet – geschweige denn vorschreibt – sind die CO2-Emissionen in der EU im Energiesektor durch den Europäischen Emissionshandel begrenzt. Vereinfacht gesagt: Genauso wie durch einen Weiterbetrieb der Atomkraftwerke keine CO2-Emissionen eingespart würden, würde es durch die Verstromung der Braunkohle aus Lützerath keine zusätzlichen CO2-Emissionen geben."

Bei der Lützerather Kohle geht es um wirtschaftliche Interessen

Prof. Dr. Michael Sterner, Leiter der Forschungsstelle Energienetze und Energiespeicher FENES an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg sagt: "Der Abbau der Braunkohle unter Lützerath ist für die technische Versorgungssicherheit und Netzstabilität nicht zwingend notwendig und in keinem Gutachten begründet, sondern marktwirtschaftlich getrieben und damit letztlich eine politische Entscheidung." Bezogen auf die DIW-Studie aus dem Jahr 2021 sagt er, diese berücksichtige nicht die aktuellen Entwicklungen durch den Ukrainekrieg samt Strompreisentwicklung, Gasknappheit und Stresstest der Stromnetze. Sie gehe außerdem weniger detailliert auf die einzelnen Kraftwerksblöcke ein als das BET-Gutachten. Allerdings hätten die Autoren der DIW-Studie inzwischen aktualisierte Studien vorgelegt, die weiter zum Schluss kommen, dass der Abbau der Braunkohle unter Lützerath nicht notwendig ist.

Die Kohle hat keine Zukunft – ob mit oder ohne Lützerath

Prof. Dr. Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und Professor für die Ökonomie und Politik des Klimawandels an der TU Berlin sagt: "Wenn Deutschland seine Klimaziele erreichen will, müssen Windkraft und Sonnenstrom die Kohle im Energiesystem ersetzen." Entscheidend sei hier der Emissionsdeckel der Europäischen Union, so Edenhofer. "Dieser ist gesenkt worden und darf nicht angehoben werden. Solange die Obergrenze für den Ausstoß von Treibhausgasen wirklich hart bleibt und sinkt, und der CO2-Preis wirkt, können wir vorübergehend auch mehr Kohle verfeuern." Dies führe zur Einsparung von Emissionen an anderer Stelle, unterm Strich würden also nicht zusätzliche klimaschädliche Abgase in die Atmosphäre gelangen. Eines stehe aber ganz klar fest, sagt Edenhofer: "Auch wenn Lützerath abgebaggert wird, hat die Kohle keine Zukunft."

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 12. Januar 2023 | 08:00 Uhr