Beratung der Politik Wird die Leopoldina politisch instrumentalisiert?
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19. Februar 2021, 17:30 Uhr
Die 1.600 Mitglieder der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina erarbeiten Stellungnahmen, die ein unabhängiges Bild der Faktenlage liefern sollen. Doch über eines dieser Papiere gibt es nachträglich Streit.
Von der Gesellschaft bis hin zur Kanzlerin: Die Expertise der Leopoldina in Halle ist derzeit immer wieder gefragt. Über ihre Empfehlungen zur Corona-Pandemie spricht ganz Deutschland. In Querdenker-Foren ging das Gerücht um, sie soll Gefälligkeitsgutachten für die Bundesregierung erstellt haben. Besonders an der Adhoc-Stellungnahme vom 8. Dezember, die eine starke Verschärfung des Lockdowns forderte, entzündet sich der Protest.
Kritik aus den eigenen Reihen
Doch selbst aus den eigenen Reihen gab es Kritik: Leopoldina-Mitglied Michael Esfeld ist Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne in der Schweiz und seit 2010 Mitglied in der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Im Dezember schrieb er einen Protestbrief an seinen Präsidenten Professor Gerald Haug.
Der Zusammenhang da war ja ziemlich eklatant. Am 8. Dezember kommt die Stellungnahme der Leopoldina raus. Am 9. Dezember beruft sich die Kanzlerin auf Naturgesetze und Kräfte der Aufklärung, um den Lockdown durchzukriegen. Also so kann es irgendwie nicht gehen. Das kann nicht sein, dass die eine wissenschaftliche Akademie oder eine Organisation eine Handlungsempfehlung quasi auf Bestellung zu bestimmten Zeitpunkten für bestimmte politische Zwecke liefert.
Handlungsempfehlung ja oder nein?
"In einer Situation wissenschaftlicher Kontroverse wie der Corona-Pandemie sollte die Leopoldina ihre Autorität nicht dazu verwenden, einseitige Stellungnahmen zu verfassen", schrieb der Wissenschaftsphilosoph in dem Brief. In der Ad-hoc-Stellungnahme vom 8. Dezember würde sich das Spektrum aller wissenschaftlichen Positionen nicht wiederfinden, kritisiert Esfeld. "Man soll verschiedene Strategien vorstellen, die in der Wissenschaft diskutiert werden und sie so kommunizieren, dass auch Nicht-Experten folgen können."
Sollten Wissenschaftler direkte Handlungsempfehlungen an die Politik abgeben? Auf die medial formulierte Kritik antwortet Leopoldina-Vizepräsidentin Regina Riphahn: "Das ist eine philosophische Frage: Ganz puristisch enthält alles, was jenseits einer Sein-Aussage formuliert wird, ein Werturteil. Aber ich glaube, dieses Werturteil ist in der Corona-Krise legitim, wenn es für die gesamte Gesellschaft ein Ergebnis erzielen möchte, das sowohl aus Gesundheitssicht als auch aus ökonomischer Sicht vertretbar ist."
Klare Formulierungen sind gefragt
Die Arbeitsgruppe habe bei der Ad-hoc-Stellungnahme ihre Formulierungen in diesem Sinne gewählt. Esfelds Kritik sei aus erkenntnistheoretischer Sicht korrekt. "Aber wenn man die Politik beraten möchte, reicht es oft nicht, mit Wenn-dann-Aussagen zu kommen. Dann muss man manchmal klarer formulieren."
Klar ist in der Coronakrise: Politiker wie auch Bürger brauchen die Expertise der Wissenschaftler. Denn die Bedrohungslage durch das SARS-Coronavirus-2 ist unübersichtlich. Immer wieder werden neue Erkenntnisse gewonnen, manche eben noch sicher geglaubte Gewissheiten können schnell widerlegt sein. Ein Ziel der Leopoldina sei es explizit auch, die Politik zu beraten und sie am aktuellsten Forschungsstand teilhaben zu lassen, so Riphahn.
Gefragt ist, dass man transparent kommuniziert. Wenn man immer nur in Möglichkeitsform argumentiert, wird nicht deutlich, wo die Gewichte bei den Argumenten liegen. In der Empfehlung wurde klar formuliert, was diese Arbeitsgruppe für eine angemessene, relativ sinnvolle Handlungsoption hält, aus unserer Sicht.
Diesen Hintergrund könnte die Politik dann gegen andere Gesichtspunkte abwägen und ihre Entscheidung treffen.
Politische Ansichten spielen keine Rolle
Als die einzig gültige Wissenschaftsposition will Vizepräsidentin Riphahn die Ad-hoc-Stellungnahme vom 8. Dezember aber nicht verstanden wissen: "Niemand sollte sich hinstellen und behaupten: Das ist jetzt die Summe allen Wissens. Das ist nicht korrekt. Man arbeitet vom Stand der Kenntnis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Und wenn man ein kurzes Statement verfasst, dann ist klar, dass nicht alle Gesichtspunkte darin berücksichtigt sind. Und manchmal werden einzelne dieser Punkte erst später wichtig. Und man hat gar nicht vorher darüber nachgedacht, dass das auch noch eine Rolle spielen könnte. Das ist einfach der normale Prozess des Arbeitens."
In den jeweiligen Arbeitsgruppen der Leopoldina würden ganz bewusst verschiedene Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen berufen. Textentwürfe würden mit allen Wissenschaftlern diskutiert, bis Konsens unter allen erreicht würde. Bei der Berufung in die Arbeitsgruppen spiele die politische Meinung der Mitglieder keine Rolle, sagt Regina Riphahn. "Das zentrale Kriterium ist wissenschaftliche Exzellenz und die hat nichts mit politischen Ansichten zu tun. Wenn jemand Mitglied der Leopoldina werden soll, müssen Sie sehr viele Beteiligte von der wissenschaftlichen Exzellenz dieser Person überzeugen. Ein politisches Kriterium existiert nicht."
Die Mitglieder der Leopoldina müssten inzwischen sogar mögliche Interessenkonflikte in einer Selbstauskunft dargelegen, sagt Regina Riphahn und verdeutlicht damit die politischen Unabhängigkeit bei der Berufung ihrer Mitglieder.
Michael Esfeld sagt, er sagt er habe auf seine schriftliche Kritik vom Dezember an den Präsidenten Gerald Haug noch keine Antwort erhalten. "Jeder ist frei, auf Briefe, die er erhält, zu antworten oder nicht. Ich wünsche mir aber vor allem für die Diskussion, die innerhalb der Wissenschaft stattfindet, dass die entsprechenden Wissenschaftsorganisationen das auch aufnehmen und nicht so tun, als ob bestimmte Experten jetzt für die Wissenschaft sprechen könnten."
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