Big Player im Weltall Indiens Raumfahrt: Mit günstigen Komponenten und Risikobereitschaft zum Erfolg
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30. September 2023, 17:59 Uhr
Indien ist erfolgreich auf dem Mond gelandet, untersucht mit eigener Sonde die Sonne und will bald mit eigenen Raumschiffen Menschen in den Weltraum bringen. Wie überraschend ist der Durchbruch der Raumfahrtnation?
Erst die erfolgreiche Mondlandung, dann der Start der Sonnenmissionen und demnächst (in den kommenden beiden Monaten) ein erster Test einer neuen Raumkapsel für astronautische Flüge – also solche, bei denen künftig Menschen an Bord sein sollen. Indien scheint als großer Player in der Raumfahrt angekommen zu sein und dabei einen Erfolg nach dem anderen zu erzielen. Zugleich waren die indische Raumfahrtbehörde Isro und ihre Weltraumprogramme einer breiten Öffentlichkeit bisher relativ unbekannt. Experten haben die aktuellen Durchbrüche aber nicht überrascht.
"Man tut den Indern Unrecht, wenn man sagt, das wäre jetzt aus dem Nichts herausgekommen", erklärt Oliver Angerer vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) im Gespräch mit MDR WISSEN. Angerer ist beim DLR für Explorationsmissionen zum Mond und Mars zuständig und ist Experte, wenn es um die internationalen Explorationsprogramme geht.
"Wenn man historisch nach Indien schaut, hatte das Land auch schon lange vor der Kolonialzeit eine starke Tradition in Bereichen wie Mathematik und Astronomie. Die Wissenschaft ist somit sehr stark kulturell mit der Identität des Landes verknüpft." Zudem entwickelt Indien seit den 1960er-Jahren sein Raumfahrtprogramm – also bereits seit der Zeit, als das große Wettrennen zum Mond zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion stattfand.
Dabei kooperiert Indien oft mit anderen Nationen, etwa mit Russland, den USA und auch Europa. Doch manchmal zeigte sich auch, dass "Kooperationen für den eigenen Bedarf nicht schnell genug liefen – zum Beispiel bei den astronautischen Aspekten", sagt Angerer. In solchen Fällen zog sich Indien zurück und versuchte selbst die notwendigen Fähigkeiten aufzubauen – auch wenn es vielleicht länger dauert. So habe das Land "alle möglichen Fähigkeiten im Land und innerhalb der Organisation selbst aufgebaut, um die Bedarfe des Landes zu erfüllen. Ob das jetzt Telekommunikation, Erdbeobachtung oder was auch immer ist – und das ist im Westen nicht so wahrgenommen worden", sagt der Raumfahrtexperte.
Indien im Vergleich zu anderen großen Raumfahrt-Nationen
Indien entwickelte eigene Trägerraketen, die neben Satelliten und Raumsonden bald auch Menschen ins Weltall befördern sollen. Mit Gaganyaan (Sanskrit: Himmelsfahrzeug) wird an einer eigenen Raumkapsel für astronautische Weltraummissionen gearbeitet. Ende 2024 will Indien aus eigener Kraft – mit seiner Trägerrakete und seiner Raumkapsel – Vyomanauten (so werden Astronauten in Indien genannt) in die Erdumlaufbahn bringen. Zunächst muss die Raumkapsel voraussichtlich im Oktober oder November 2023 getestet werden.
"Neben den Plänen mit der Kapsel wollte Indien gegebenenfalls auch eine Raumstation entwickeln. Das passiert vielleicht nicht heute oder morgen, aber in zehn oder 15 Jahren", so Angerer. Die Pläne dafür sind noch vage, aber bezüglich des eigenen Zugangs zum Weltraum steht Indien genauso gut da wie China. Danach folgen die Russen mit ihren eigenen Raketen und Raumfrachtern (Sojus). Die Amerikaner bringen Menschen derzeit mit SpaceX ins All, können für sonstige Fracht jedoch auf andere im Land gefertigte Raketen zurückgreifen.
Hängt Indien Europa in puncto Raumfahrt ab?
Europa scheint da ein wenig hinterherzuhinken. Der europäischen Raumfahrtbehörde ESA fehlt es derzeit an einer eigenen Trägerrakete für große Fracht. Die Ariane 5 hat ausgedient, und der Jungfernflug der Ariane 6 verschiebt sich. Ein eigenes Raumschiff fehlt ebenfalls. Hängt Indien somit gerade Europa ab?
In Europa hat man laut Angerer bewusst für Kooperationen entschieden und hat dadurch auch einen regelmäßigen Zugang für seine Raumfahrenden zum Weltraum. Dennoch wird diskutiert, "ob es Sinn machen würde, in Europa auch eine astronautische Startfähigkeit zu entwickeln. Das ist letztendlich eine sehr politische Frage, die auf einem hohen politischen Niveau geführt wird".
Diese Autonomie würde jedoch große Einschränkungen bezüglich des Budgets für andere Bereiche wie die Exploration bedeuten. "Auch wenn Europa jetzt keine spezielle Fähigkeit im astronautischen Transport hat, gibt es viele andere Bausteine, mit denen sich Europa beispielsweise auch an der Mondexploration beteiligt."
Die erfolgreichen Mondmissionen mit Chandrayaan
Eine eigene Mondlandung ist noch keiner europäischen Nation gelungen, während Indien als viertes Land der Welt erfolgreich eine Sonde auf unserem Trabanten abgesetzt hat. Bereits mit der ersten Chandrayaan-Mission in den Jahren 2008 und 2009 konnte die ISRO einen Orbiter in der Umlaufbahn positionieren und Wasservorkommen auf dem Mond nachweisen – was letztendlich das neue Wettrennen um das Thema Weltraumressourcen-Nutzung auf dem Erdtrabanten vorangetrieben hat.
2019 sollte die erste indische Mondlandefähre auf dem Trabanten landen, scheiterte jedoch. "Die Software hat beim Landeanflug einen Fehler verursacht, und das brachte die Landefähre zum Absturz", sagt Angerer.
Aus dieser missglückten Landung hat die ISRO gelernt und konnte am 23. August 2023 erfolgreich in der Nähe des Mondsüdpols landen. "Ich bin mir recht sicher, dass man da nicht dramatisch viel am Design und dem Lander-Konzept verändert hat. Man hat das Rad nicht wieder neu erfunden, sondern auf dem Vorhergemachten einfach aufgebaut und das korrigiert, was nicht so richtig war."
Der New-Space-Flair der indischen Raumfahrt
Ohnehin arbeitet die indische Raumfahrt etwas anders als beispielsweise die NASA oder ESA. "Man verwendet nicht die besten Komponenten, die standardmäßig verwendet werden. Die müsste man im Ausland einkaufen, wie wir das normalerweise bei europäischen Missionen machen", sagt der Raumfahrtexperte. Stattdessen werden die benötigten Teile im eigenen Land von der eigenen Industrie gefertigt. Das wiederum senkt den Preis für indische Raumfahrtmissionen.
Die ISRO fängt "nicht eine Riesenmission mit 20 hochkomplexen Instrumenten" an, sondern "fokussiert sich mehr auf die Dinge, die jetzt bei diesem Schritt einen möglichen Benefit bringen". Außerdem geht die Behörde kalkulierte Risiken ein. Bestimmte Tests, die in Europa und den USA mehrfach durchgeführt werden, werden in Indien nur wenige Male gemacht.
"Das sind Philosophien, wie sie bei manchen New-Space-Konzepten im Vordergrund stehen. Man baut einfache Systeme und kalkuliert ein bisschen mehr Risiken ein – und wenn es dann mal nicht hundertprozentig hinhaut, dann akzeptiert man das, lernt daraus und korrigiert es für den nächsten Schritt."
Indiens günstige Raumfahrt
Das alles senkt den Preis für Weltraummissionen. Die indische Sonnenmission Aditya-L1 kostet beispielsweise etwa 42,5 Millionen Euro. Die ESA-Mission Solar-Orbiter kostet dagegen 300 Millionen Euro, und die Parker Solar Probe von der NASA etwa 1,4 Milliarden Euro. Freilich unterscheiden sich die Missionsziele stark; NASA und ESA kommen mit ihren Raumfahrtmissionen deutlich näher an unser Zentralgestirn heran. Trotzdem ist die indische Mission erheblich günstiger.
Ein weiterer Faktor für den starken Preisunterschied ist das Gehaltsniveau in Indien. Die Ingenieure und Wissenschaftler sind zwar sehr gut ausgebildet und haben teilweise im Ausland studiert, ihre Gehälter sind jedoch nicht üppig.
"Wenn man sich allein anschaut, wie viele Leute für ISRO arbeiten und wie hoch das indische Raumfahrtbudget insgesamt ist … in Europa würde das Raumfahrtbudget bei dieser Anzahl von Leuten vermutlich allein für die Gehälter benötigt, ohne dass man irgendwelche Missionen macht", vermutet Angerer. Die indischen Ambitionen im Weltall fußen laut dem Experten auf einer langen Tradition, die Indien zu einem der großen Player der Raumfahrt macht.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR aktuell | 23. August 2023 | 13:58 Uhr
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