Zustand der Erde Sieben von acht "planetaren Grenzen" der Erde schon überschritten
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01. Juni 2023, 07:42 Uhr
Wie kann man das Leben auf der Erde sicher und gerecht für alle machen? Wissenschaftler aus mehreren Ländern haben dafür acht planetare Grenzen definiert. Sieben davon seien allerdings schon überschritten, schreiben sie in ihrer Studie.
Vom Pariser Klima-Abkommen haben die meisten schon gehört. Vor siebeneinhalb Jahren einigten sich fast 200 Staaten, die globale Erwärmung auf "deutlich unter" 2 °C verglichen mit dem vorindustriellen Zeitalter zu beschränken, möglichst sogar auf unter 1,5 °C. Eine klare Grenze, die gezogen wurde — und der wir uns mit Siebenmeilenstiefeln nähern, derzeit stehen wir bei 1,2 °C.
Solche Grenzen sind wichtig, weil sich aus ihnen klare Handlungsempfehlungen ableiten lassen - für Staaten bzw. ihre Regierungen, für große Unternehmen, für alles, was Einfluss aufs Klima hat. Definiert werden die Grenzen bestenfalls von klugen Köpfen aus der Wissenschaft, nach allgemein anerkannten Erkenntnissen und bestem Wissen und Gewissen. Ziel ist dabei immer, einen Kipppunkt nicht zu erreichen, nach dessen Überschreiten die Erde oder das Leben auf ihr irreparablen Schaden nimmt.
Nun hat eine mehr als 40-köpfige internationale Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in einer großen Studie acht solche Grenzen definiert, die globale Erwärmung ist nur eine davon. "Wir befinden uns im Anthropozän und setzen die Stabilität und Belastbarkeit des gesamten Planeten aufs Spiel. Deshalb legen wir zum ersten Mal quantifizierbare Zahlen und eine solide wissenschaftliche Grundlage vor, um den Zustand unserer planetarischen Gesundheit nicht nur im Hinblick auf die Stabilität und Widerstandsfähigkeit des Erdsystems, sondern auch im Hinblick auf das menschliche Wohlergehen und die Gleichheit/Gerechtigkeit zu bewerten", sagt Prof. Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Hauptautor der Studie.
Sicherheit und Gerechtigkeit
Die Forscherinnen und Forscher, die alle der "Earth Commission", einem internationalen Team von führenden Natur- und Sozialwissenschaftlern angehören, bringen also einen neuen Faktor in die Studie ein: Gerechtigkeit. Denn Ursachen und Wirkungen sind nicht gleichmäßig über die Welt verteilt. So leiden zum Beispiel viele Industrieländer mit hohem CO2-Ausstoß weniger stark an den Folgen der globalen Erwärmung als Entwicklungsländer in Äquatornähe.
"Gerechtigkeit ist eine Notwendigkeit für die Menschheit, um innerhalb der planetarischen Grenzen zu leben. Dies ist eine Schlussfolgerung, die von der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft in mehreren bedeutenden Umweltgutachten gezogen wurde. Es ist keine politische Entscheidung", sagt Studien-Mitautorin Prof. Joyeeta Gupta, Professorin für Umwelt und Entwicklung im globalen Süden an der Universität Amsterdam.
"Die überwältigenden Beweise zeigen, dass ein gerechter und ausgewogener Ansatz für die Stabilität des Planeten unerlässlich ist. Ohne Gerechtigkeit können wir keinen biophysikalisch sicheren Planeten haben." Nötig seien deshalb gerechte Ziele, um erhebliche Schäden zu verhindern und allen Menschen zum Beispiel den Zugang zu Ressourcen zu garantieren.
Erderwärmung und vier weitere Kategorien
Die Earth Commission hat nun für jeden untersuchten Aspekt eine "sichere" und eine "gerechte" Grenze definiert. Die "gerechte" Grenze ist dabei zum Teil enger gesteckt, weil manche Teile der Menschheit schon früher betroffen sind als andere. Beispielsweise werden bei der globalen Erwärmung 1,5 °C als "sichere" Grenze angesehen, wenn man mehrere Klimakipppunkte vermeiden will. "Gerecht" sei aber eine Grenze von 1 °C, bei der es schon "eine hohe Exposition gegenüber erheblichen Schäden durch den Klimawandel" gebe.
Außer der Erderwärmung wurden noch Grenzen in vier anderen Bereichen definiert:
1. Biosphäre: Hier gibt es zwei Unterkategorien, nämlich die global intakte Natur und die lokal verwaltete Natur, jeweils hinsichtlich des Anteils an natürlicher Ökosystem-Fläche.
2. Wasser: Auch hier gibt es zwei Kategorien, zum einen die monatliche Abflussveränderung von Oberflächen- bzw. Trinkwasser und zum anderen der Vergleich zwischen Absenkung und Anstieg des Grundwasserspiegels.
3. Nährstoffe (Düngemittel): Wiederum werden zwei Grenzwerte definiert, für den Stickstoff- und den Phosphorgehalt im Trinkwasser.
4. Aerosol-Schadstoffe: Hier gibt es Grenzwerte für die sogenannte "Aerosol Optische Dicke" (engl. Aerosol Optical Depth), auch atmosphärische Trübung genannt.
Kategorie | Sicherer Grenzwert | Gerechter Grenzwert |
---|---|---|
Klima / Erderwärmung | 1,5 °C - eingehalten | 1,0 °C - verfehlt (derzeit 1,2 °C) |
Biosphäre - global intakte Natur | mindestens 50 bis 60 % natürliche Ökosystemfläche - verfehlt mit 45 bis 50 % | wie sicherer Grenzwert |
Biosphäre - lokal verwaltete Natur | mindestens 20 bis 25 % natürliche Ökosysteme je km² - verfehlt bei zwei Dritteln der vom Menschen bewohnten Landfläche | wie sicherer Grenzwert |
Wasser - Oberflächenwasser | höchstens 20 % monatliche Abflussveränderung - verfehlt mit 34 % | wie sicherer Grenzwert |
Wasser - Grundwasserspiegel | jährliche Absenkung geringer als Anstieg/Neubildung - verfehlt auf 47 % der gesamten Landfläche | wie sicherer Grenzwert |
Nährstoffkreislauf - Stickstoff | weniger als 2,5 Milligramm je Liter in Oberflächengewässern und weniger als 5 bis 20 Kilogramm je Hektar und Jahr an Land (lokal); 61 Mio. Tonnen Überschuss pro Jahr (global) - verfehlt mit 119 Mio. Tonnen pro Jahr | wie sicherer Grenzwert zzgl. Trinkwasser weniger als 11,3 Milligramm Nitrat je Liter (lokal); 57 Mio. Tonnen Überschuss pro Jahr (global) - verfehlt mit 119 Mio. Tonnen pro Jahr |
Nährstoffkreislauf - Phosphor | 50 bis 100 Milligramm pro Kubikmeter (lokale Süßwasserkonzentration); 4,5 bis 9 Mio. Tonnen Überschuss pro Jahr (global) - verfehlt mit 10 Mio. Tonnen pro Jahr |
wie sicherer Grenzwert zzgl. zusätzlicher lokaler Standards - verfehlt mit 10 Mio. Tonnen pro Jahr |
Aerosol-Schadstoffe global | 0,15 jährlicher mittlerer interhemisphärischer AOD-Unterschied - eingehalten mit 0,05 | wie sicherer Grenzwert |
"Die Ergebnisse unseres Gesundheitschecks sind recht beunruhigend", sagt Studien-Hauptautor Johan Rockström. "Innerhalb der untersuchten Bereiche sind bereits mehrere Grenzen auf globaler und lokaler Ebene überschritten. Das bedeutet, dass, wenn nicht rechtzeitig ein Wandel stattfindet, höchstwahrscheinlich irreversible Kipppunkte und weitreichende Auswirkungen auf das menschliche Wohlergehen unvermeidbar sind. Dieses Szenario muss unbedingt vermieden werden, wenn wir eine sichere und gerechte Zukunft für heutige und künftige Generationen sichern wollen."
Zustimmung im Allgemeinen, Kritik im Speziellen
Die Studie und die darin definierten Grenzwerte sind in der Wissenschaftsgemeinde schon vor der Veröffentlichung auf reges Interesse gestoßen, viele haben sich damit beschäftigt oder waren sogar für das "Gegenlesen", den sogenannten Review-Prozess verantwortlich wie Prof. Dr. Henrique Pereira, Leiter der Forschungsgruppe Biodiversität und Naturschutz am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig.
Er lobt die grundsätzliche Herangehensweise seiner Kolleginnen und Kollegen in der Studie: "Die aktuelle Studie erweitert das Konzept der Planetaren Grenzen in zwei Richtungen: Zum einen geht es darum, wie man die Grenzen von lokal auf global skalieren kann, zum anderen darum, wie man Fragen der sozialen Gerechtigkeit in die Definition der Grenzen einbringen kann. Beides sind wichtige Fortschritte und machen das Konzept brauchbarer und robuster."
Allerdings nennt er auch einen Kritikpunkt, nämlich wie die formulierten Grenzwerte zustande gekommen sind. Zwar beruhen alle auf der Einschätzung von Expertinnen und Experten, was aus Pereiras Sicht zulässig ist, "aber eine andere Gruppe von Expertinnen und Experten könnte zu anderen Zahlenwerten für die Grenzen kommen", so der iDiv-Forscher.
Grundsätzlich aber sind viele Expertinnen und Experten froh über die neu eingebrachte Frage der Gerechtigkeit. So auch Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese, Direktorin am "Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum". Sie erklärt, in der Studie gehe es auch darum, wie gerecht natürliche Ressourcen auf der Erde verteilt sind.
"Dies wird untersucht im Hinblick auf Gerechtigkeit zwischen den Generationen – übernutzt unsere Generation derzeit die Erde, bleibt dann noch genug für die nächsten Generationen? Es geht um die Gerechtigkeit innerhalb unserer Generation – sind die Vorteile und Nachteile der Nutzung der Ressourcen über die ganze Erde gerecht verteilt? Und die dritte Dimension ist die Gerechtigkeit gegenüber anderen Lebewesen auf der Erde. Das ist sicher die umstrittenste Dimension. Lassen wir den anderen Lebewesen auf der Erde, den anderen Tieren, den Pflanzen, den Pilzen genug Platz und Ressourcen zum Leben?“
Dass die definierten Grenzwerte zwar ein Ergebnis von viel Expertise sind, aber auch als recht willkürlich angesehen werden können, ist den 40 Autorinnen und Autoren der Studie bewusst. Aber durch so konkret formulierte Werte hoffen sie auf Reaktionen durch Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft.
"Mit dieser globalen wissenschaftlichen Bewertung geben wir allen Beteiligten wissenschaftliche Grundlagen an die Hand, die eine wohlhabende und gerechte Entwicklung der Welt auf einem stabilen Planeten und eine bessere Zukunft für die Menschen und den Planeten ermöglichen können", sagt Hauptautor Johan Rockström. "Diese neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse dienen als Grundlage für die Entwicklung von wissenschaftlich fundierten Zielen. Diese können von Städten, Unternehmen und Ländern übernommen werden, um die systemischen globalen Krisen des Klimawandels, des Verlusts der biologischen Vielfalt, der Nährstoffüberlastung, der übermäßigen Nutzung von Wasser und der Luftverschmutzung zu bewältigen", so der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.
Links / Studien
Die Studie "Safe and just Earth system boundaries" ist im Journal Nature erschienen.
(rr)