Frau und Mann stehen Hand in Hand vor einem Haus.
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Soziologische Studie Mehr erben, schöner wohnen: "Ungleichheit in Stein und Beton"

29. Januar 2024, 14:52 Uhr

In Deutschland gibt es die berühmten "eigenen vier Wände" vergleichsweise selten, vor allem, wenn man keine reichen Eltern hat. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die die Wohnverhältnisse in Europa untersucht hat.

Die Übertragung von Vermögen von Eltern auf ihre Kinder ist eine der Hauptursachen sozioökonomischer Ungleichheit in Europa. Das sagt Dr. Or Cohen Raviv, Soziologin von der Uni Konstanz. Sie hat zusammen mit Prof. Dr. Thomas Hinz eine Studie veröffentlicht, in der es darum geht, wie sehr geerbtes (oder zu Lebzeiten geschenktes) Geld über die Frage nach den eigenen vier Wänden entscheidet.

Die offensichtlichste Auswirkung der eingangs erwähnten Ungleichheit sei die Verteilung von Wohneigentum, so die Soziologin. "Wer erbt – oder von den Eltern finanziell unterstützt wird –, ist hier ganz klar im Vorteil. Ein Riesenproblem für eine Politik, die Ungleichheit entgegenwirken will. Und ein Riesenproblem für die jungen Erwachsenen dieser Generation, die in vielen Ländern Europas weitaus mehr von Inflation, steigenden Wohnkosten, Arbeitslosigkeit und anderen Unsicherheiten bedroht sind als ihre Eltern."

Cohen Raviv und Hinz untersuchten einen Datensatz aus drei Erhebungszyklen (2010 bis 2017) zu Haushaltsfinanzen und Konsumverhalten der Europäischen Zentralbank – mit jeweils etwa 70.000 bis 80.000 Haushalten aus 20 europäischen Ländern. Ihr erster Befund: Wohneigentum ist bei jungen Erwachsenen in Südeuropa und in Ostmitteleuropa viel gleichmäßiger verteilt als in West- und Mitteleuropa.

Zu etwas anderen Zahlen, aber tendenziell sehr ähnlichen Ergebnissen kommt eine aktuellere Erhebung von Eurostat, in die Daten der Gesamtbevölkerungen einflossen, auch aus Nicht-EU-Ländern. Dort ist Deutschland nach der Schweiz das europäische Land mit der niedrigsten Wohneigentumsquote.

Blick auf Deutschland

In Deutschland spielen laut Studie der hiesige große, gesetzlich regulierte Mietmarkt und die finanziellen Verhältnisse der Menschen eine größere Rolle als in vielen anderen Ländern. Deshalb wohnen diejenigen, die von den Eltern kein größeres Startkapital vorgeschossen bekommen, zwangsläufig viel öfter zur Miete, bilanziert die Studie. "Das obere Fünftel der jungen Erwachsenen, was das Vermögen der Eltern angeht, hat in Ländern wie Deutschland, Österreich oder Irland viel höhere Chancen, sein Haus oder seine Wohnung selbst zu besitzen", erklärt Thomas Hinz. "Verglichen mit dem untersten Fünftel ist die Chance in Deutschland etwa 30 Prozent höher."

Dass es hierzulande in den vergangenen Jahren finanziell immer schwieriger wurde, sich die "eigenen vier Wände" zu leisten, wird an der Entwicklung des Preisindex für Wohneigentum deutlich. Wenn man die Durchschnittspreise von 2010 als Vergleichswert heranzieht, benötigte man 2021 schon fast doppelt so viel Geld (Preisindex 180,6).

Unter diesem Aspekt wirkt es fast erstaunlich, dass sich in den vergangenen Jahren die Wohnsituation der Bevölkerung statistisch kaum verändert hat. Die Anteile der Menschen mit eigenem Haus, eigener Wohnung und gemietetem Wohnobjekt schwankten in fünf Jahren um jeweils weniger als einen Prozentpunkt.

Deutliche Unterschiede ergeben sich aber, wenn man danach fragt, wer wo wohnt und dabei den sozioökonomischen Status zu Rate zieht, in den der finanzielle und der soziale Hintergrund der Menschen einfließt. Hier wird die Ungleichheit offensichtlich. Fast 70 Prozent der Menschen mit hohem sozioökonomischem Status nennen ein Haus oder eine Wohnung ihr Eigen. Bei der Gruppe mit niedrigem sozioökonomischem Status sind es nur knapp 30 Prozent.

Flexible Kreditmärkte begünstigen Ungleichheit beim Wohnen

Dr. Or Cohen Raviv, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziologie der Universität Konstanz
Dr. Or Cohen Raviv, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziologie der Universität Konstanz Bildrechte: Ines Janas

In der Studie nahmen Cohen Raviv und Hinz besonders den Mietmarkt und die Verfügbarkeit von Hypotheken in den Blick. Ihre Hypothese war, dass flexible und offene Kreditmärkte auch denjenigen Wohneigentum ermöglichen müssten, die keine finanzielle Unterstützung durch Schenkung oder Erbschaft haben. Tatsächlich aber stellten sie fest, dass leichterer Zugang zu Krediten und Hypotheken im Gegenteil diejenigen begünstigte, die besonders viel Wohlstand aus der Elterngeneration übernommen hatten.

Es gebe dafür zwei Erklärungen, sagt Or Cohen Raviv. "Erstens sind Immobilien in Ländern mit liberalem Kreditmarkt tendenziell teurer, junge Erwachsene brauchen also immer noch Vermögen, um Wohneigentum zu erwerben. Zweitens versetzen leicht verfügbare Hypotheken sie in die Lage, von den Eltern geschenktes oder geerbtes Geld in Immobilien anzulegen: Wohneigentum als Vermögensanlage."

Erbschaftsvolumen nimmt deutlich zu

Das Statistische Bundesamt veröffentlicht jährlich, wie viel Vermögen in Deutschland durch Schenkung und Erbschaft offiziell den Besitzer wechselt, oft natürlich innerhalb der Familie. Während das Volumen aller Schenkungen in Deutschland eine Zeit lang rückläufig war, stieg es zuletzt wieder deutlich an. Und der Trend bei den Erbschaften zeigt fast stetig nach oben.

Das Erbschaftsvolumen hat sich in zehn Jahren also mehr als verdoppelt. Und das beinhaltet alles, was man so vererben kann: Geld, Kapitalanlagen, Sachwerte wie Schmuck - oder eben Grundstücke. Letztere (egal, ob bebaut oder unbebaut) zählen bei Erbschaften zum sogenannten Grundvermögen (rote Linie).

Sozioökonomische Ungleichheit wird über Generationen festgeschrieben – in Stein und Beton.

Prof. Dr. Thomas Hinz, Soziologe, Uni Konstanz
Prof. Dr. Thomas Hinz, Professor für Soziologie an der Universität Konstanz und Principal Investigator am Exzellenzcluster "The Politics of Inequality"
Prof. Dr. Thomas Hinz, Professor für Soziologie an der Universität Konstanz und Principal Investigator am Exzellenzcluster "The Politics of Inequality" Bildrechte: Universität Konstanz

In Deutschland wird also so viel geerbt wie nie zuvor. Laut Prof. Dr. Thomas Hinz führt das zur Konzentration von Wohneigentum in den Händen von Familien, in denen Vermögen von Generation zu Generation weitergegeben wird. "Wir beobachten, dass die jungen Erwachsenen mit mehr Startkapital tendenziell besonders dort investieren, wo die Immobilienpreise hoch sind oder besonders viel Investitionen nötig sind – Stichwort Gentrifizierung. Dort steigen aber auch die Preise besonders schnell, so dass sich die Investition schneller auszahlt. Wohngegenden der Reichen grenzen sich so zunehmend von denen der Armen ab. Und sozioökonomische Ungleichheit wird über Generationen festgeschrieben – in Stein und Beton."

Ost-West-Gefälle

In der Studie wurden die einzelnen EU-Länder jeweils als Ganzes betrachtet. Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland wurden also Zum Beispiel nicht beleuchtet. Aber auch die gibt es offensichtlich.
In den östlichen Bundesländern (inklusive Berlin) leben knapp 20 Prozent aller Deutschen. Keine Ungleichheit zwischen Ost und West läge vor, wenn der Osten auch zu etwa 20 Prozent am gesamten Erbvolumen beteiligt wäre. Ist er aber nicht, wie die letzte große Prognose für Erbschaften von 2015 bis 2024 errechnet hat.

Und auf Sicht wird das wohl auch noch eine Weile so bleiben. Denn wo es weniger Einkommen gibt, gibt es wahrscheinlich auch weniger zu vererben.

(rr)

MDR WISSEN befasst sich in einer dreiteiligen Dokumentation und einem datenjournalistischen Projekt mit Fragen nach Generationengerechtigkeit in den Bereichen Ökologie und Ökonomie. "Wer bezahlt die Zukunft?", ab 13.10.2022 in der ARD Mediathek und auf mdr-wissen.de.

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