Gedankenlesen Die Gedankenlese-Maschine: Noch Science-Fiction oder bald Realität?

17. August 2021, 15:57 Uhr

Ob beim Dating, beim Streit mit dem besten Freund oder im Personalgespräch mit der Chefin – wäre es in solchen Momenten nicht toll, wenn wir genau wüssten, was im Kopf unseres Gegenübers gerade vor sich geht, was er denkt, fühlt und plant? Es ist der uralte Menschheitstraum von der Entwicklung einer Gedankenlese-Maschine. Doch lässt die Forschung ihn bald schon Realität werden oder bleibt er nur eine Science-Fiction-Fantasie?

Was uns Mimik und Körpersprache über andere verrät

Die Gedanken und Emotionen anderer Menschen zumindest ein Stück weit zu "lesen", ist eine Fähigkeit, die wir grundsätzlich alle haben. Die Körpersprache unseres Gegenübers kann uns Anzeichen liefern, was ihm oder ihr gerade durch den Kopf geht. Allein schon die Mimik eines Menschen bietet Dutzende Parameter, an denen wir uns im Alltag bewusst und unbewusst orientieren: Die Stirn ist gerunzelt? Dann sind möglicherweise Skepsis und Kritik im Anmarsch. Die Mundwinkel gehen nach oben? Ein solches Lächeln interpretieren wir als Freundlichkeit oder Freude. Die Augen werden groß, die Augenbrauen wandern nach oben? Das verstehen wir oft als Überraschung. Doch je nachdem, welche weiteren mimischen Details vorliegen, kann diese Bewegung aber beispielsweise auch Angst oder Begeisterung bedeuten. Die Mimik und Körpersprache zeigt sich also immer auch in individuellen Ausprägungen.

Die Basis-Emotionen Wut, Freude, Trauer, Ekel, Verachtung, Angst und Überraschung wurden in den 1980er-Jahren von den US-amerikanischen Psychologen Paul Ekman und Wallace Friesen in einer Art "Gesichtsmuskel-Periodensystem" codiert. Das sogenannte "Facial Action Coding System" (FACS) gilt bis heute als Grundlage in Sachen Mimik- und Emotionserkennung.

Mimiklesen bleibt an der Oberfläche

ein Mann hält Fotos mit verschiedenen Gesichtsausdrücken in der Hand
Unsere Mimik ist ein komplexes Feld: ein einzelner Gesichtsausdruck kann viele verschiedene Bedeutungen haben. Bildrechte: Colourbox.de

Dieses erlernte Deuten der Körpersprache unserer Mitmenschen, das wir im Alltag ständig anwenden, ist natürlich ein Vorteil in unserem sozialen Miteinander – auch aus evolutionärer Sicht. Doch von detailliertem Gedankenlesen, wie wir es aus Science-Fiction-Romanen und -Filmen kennen, ist dieser Skill noch weit entfernt. Wir können vielleicht sehen, ob ein Mensch traurig ist. Aber welche Facetten diese Trauer hat, woher sie kommt, welche Erinnerungen, Assoziationen und Handlungsabsichten mit ihr einhergehen, bleibt uns verborgen, solange wir unser Gegenüber nicht explizit danach fragen. Doch inwieweit können uns Technik und künstliche Intelligenz dabei helfen, zu erfassen, was gerade in einem Menschen vorgeht?

Sehen, was andere denken

"Bis zu einem gewissen Grad können wir heute tatsächlich aus Messung der Hirnaktivität erfahren, was eine Person gerade denkt", sagt der deutsch-britische Hirnforscher und Psychologe John-Dylan Haynes von der Charité Berlin. Und merkt gleich darauf an: "Doch der Teufel steckt im Detail."

Wir sind noch sehr weit davon entfernt, Science-Fiction-Fantasien Wirklichkeit werden zu lassen, wo man dann beliebige Gedanken in beliebiger Detailtreue abmessen kann.

John-Dylan Haynes, Psychologe und Neurowissenschaftler an der Charité Berlin

Lange habe die Forschung sich darauf konzentriert, Bilder aus dem Gehirn herauszulesen, die eine Person sich vorstellt oder betrachtet, so Haynes. Und in dieser Hinsicht sei bereits vieles möglich. So ist es russischen Wissenschaftler:innen der Firma Neurobotics und dem Moskauer Institut für Physik und Technologie 2019 gelungen, in Echtzeit zu rekonstruieren, welche Bilder eine Versuchsperson gerade betrachtet. Und Forschende der University of California in Berkeley haben es geschafft, aus der aufgezeichneten Hirnaktivität von Versuchspersonen zu extrahieren, welche Bewegtbilder diese zuvor gesehen hatten. Die dabei entstandenen Film-Schnipsel sind jedoch alles andere als detailliert.

Fingerabdrücke unseres Gehirns

Psychologe und Neurowissenschaftler John-Dylan Haynes im Portrait.
Über die Möglichkeiten, Grenzen und Fragen des Brain Readings hat John-Dylan Haynes ein Buch geschrieben: "Fenster ins Gehirn" erscheint im Mai 2021 im Ullstein-Verlag. Bildrechte: MDR/John-Dylan Haynes/Charité Berlin

Die Systematik, die solchen Versuchsreihen zugrunde liegt, ist immer die gleiche, erklärt John-Dylan Haynes: "Man misst die Hirnaktivität, während jemand einen bestimmten Gedanken denkt, und dann bringt man einem Computer bei, dieses Hirnaktivitätsmuster zu erkennen. Das machen wir überwiegend mit der sogenannten Magnetresonanztomografie, also Hirnscannern, mit denen wir eine Art Würfel-Gitter über das Gehirn legen und in jeder dieser kleinen Messeinheiten feststellen, ob das Gehirn da gerade aktiv ist oder nicht. Und so bekommen wir ein Muster der gesamten Hirnaktivität, die wir mit einzelnen Gedanken in Verbindung bringen können."

Jeder Gedanke in unserem Gehirn führt zu einem unverwechselbaren Aktivitätsmuster – wie ein Fingerabdruck.

John-Dylan Haynes, Psychologe und Neurowissenschaftler an der Charité Berlin

Kurz gesagt: Muster werden ins technische System "eingelesen" und können anschließend – mit oder ohne Hilfe künstlicher Intelligenz – wiedererkannt werden, wenn eine Person erneut an etwas Bestimmtes denkt.

Kein Gedankenlesen ohne vorheriges "Futter"

Doch genau hier findet sich eine der vielen Grenzen, denen die Möglichkeiten des neurologischen "Brain Readings" heutzutage (noch) unterworfen sind. "Das Ganze funktioniert nur dann richtig gut, wenn ich weiß, wie das Hirnaktivitätsmuster aussieht, das mit einem bestimmten Gedanken einhergeht", erklärt Haynes und gibt ein Beispiel: "Wenn ich eine Person im Scanner habe, die denkt 'Hund-Katze-Maus' und ich messe die Hirnaktivität dazu, dann kann ich 'Hund-Katze-Maus' auslesen. Aber was ist mit 'Elefant' oder 'Giraffe'? Wenn ich diese Muster vorher nicht gelernt habe, kann ich sie auch nicht auslesen."

Das heißt, jedes Gedanken-Muster muss einzeln trainiert werden, bevor die Maschine es in der Labor-Situation vorhersagen kann. "Und das ist ein großes Hindernis, dass wir noch nicht so richtig gute Verfahren haben, mit denen man das verallgemeinern und sagen kann: Denken Sie einfach irgendeinen beliebigen Gedanken im Scanner, und wir können den dann auslesen."

"Man muss sich fragen: Was ist denn ein Gedanke?"

Eine Science-Fiction-taugliche "Gedankenlese-Maschine" bleibt aber auch deshalb – zumindest vorerst – Zukunftsmusik, weil bislang noch nicht klar abgegrenzt ist, wo genau das Gedankenlesen überhaupt anfängt. "Man muss sich fragen: Was ist denn ein Gedanke?", gibt Thomas Stieglitz, Professor für Biomedizinische Mikrotechnik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, zu bedenken.

Wissen wir überhaupt schon, was Gedanken von neurowissenschaftlicher Seite her sind und wie das Ganze zusammenhängt?

Thomas Stieglitz, Professor für Biomedizinische Mikrotechnik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Deutlich wird das an einem Beispiel: "Stellen Sie sich vor, Sie essen eine Erdbeere, dann gibt es ja einen Geschmack, und der ergibt ein Muster. Jetzt kann ich natürlich sagen: Wenn ich dieses Muster für Erdbeer-Geschmack sehe, dann lese ich den Gedanken 'Erdbeere'. Es kann aber auch sein, je nachdem, wo und mit wem Sie als Kind Erdbeeren gegessen haben, dass Sie die geblümte Kittelschürze Ihrer Großmutter bei der ersten Erdbeere sehen, nasse Erde riechen und vielleicht noch Osterglocken sehen, weil die neben dem Erdbeerbeet gestanden haben. Und das sind für mich Gedanken: diese Assoziation dazu, die Stimmung, die ich wahrnehme."

86 Milliarden Nervenzellen zeigen die Grenzen auf

Und es gibt weitere Herausforderungen: So sei einerseits die Technik noch nicht ausgereift genug, um die nötige Rechenleistung und Detailliertheit für tiefer gehende neurologische "Auslesungen" aufzubringen. Andererseits ließe sich die Komplexität unseres Gehirns nicht einmal mit Hilfe von künstlicher Intelligenz nachhaltig erfassen.

Wenn das menschliche Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, wären wir so einfach, dass wir es nicht verstehen könnten.

John-Dylan Haynes, Psychologe und Neurowissenschaftler an der Charité Berlin
Menschliches Gehirn und Nervenzelle
Viel Raum für Gedanken: Das menschliche Gehirn besteht im Schnitt aus 86 Milliarden Nervenzellen. Bildrechte: imago images/Science Photo Library

"Das menschliche Gehirn besteht im Schnitt aus 86 Milliarden Nervenzellen. Und wenn ich mit meinen 86 Milliarden Nervenzellen über die 86 Milliarden Nervenzellen einer anderen Person nachdenken möchte, sind dem natürlich Grenzen gesetzt", erklärt Hirnforscher Haynes die Paradoxie des Ganzen: "Man kann heute auch vielfach mit maschinellen KI-Verfahren an diese Hirnaktivitätsmuster rangehen, das geht bis zu einem gewissen Grad. Nur landen wir dann in so einer paradoxen Schleife, weil wir dann wiederum versuchen müssen, diese KI-Algorithmen zu verstehen. Das heißt, wir scheitern nicht am Verständnis des Gehirns, sondern am Verständnis, wie die KI-Algorithmen das Gehirn verstehen."

Baut Elon Musk ein Gedankenlese-Implantat?

Von solcherlei Grenzen scheint sich der US-amerikanische Milliardär und Unternehmer Elon Musk nicht aufhalten zu lassen. Mit seinem Start-up "Neuralink" hat er ein Implantat entwickelt, das er perspektivisch auch Menschen ins Hirn einsetzen will. Dieses Implantat soll per Bluetooth mit einem Computer verbunden sein und sowohl Signale aus dem Gehirn senden als auch welche empfangen.

So soll unter anderem Menschen mit motorischen Störungen und Depressionen geholfen werden, es soll aber auch möglich sein, über die Hirn-Computer-Schnittstelle beispielsweise Videospiele zu steuern oder unsere Wahrnehmung zu beeinflussen. Erste Versuche, bei denen etwa die Wahrnehmungsreize und Bewegungsvorhaben von Schweinen und Affen ausgelesen wurden, waren bereits erfolgreich.

Hirn-Computer-Schnittstellen in der Medizin

Doch was ist das nun? Eine abseitige Nerd-Spielerei? Oder ein revolutionärer Schritt hin zum komplett auslesbaren menschlichen Gehirn? "Dieses System ist bemerkenswert, weil Elon Musk es geschafft hat, all die unterschiedlichen Entwicklungen zu kombinieren", lobt Thomas Stieglitz zunächst, "aber es ist nicht so, als ob wir vorher auf Pferden geritten wären und Musk hat jetzt das Auto erfunden."

Das Ganze ist eine saubere ingenieurwissenschaftliche Leistung, aber auch keine Rocket Science.

Thomas Stieglitz, Professor für Biomedizinische Mikrotechnik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Biomediziner Thomas Stieglitz im Portrait.
Thomas Stieglitz, Professor für Biomedizinische Mikrotechnik, forscht seit vielen Jahren zur Verbindung technischer Systeme mit dem Nervensystem. Bildrechte: MDR/Uni Freiburg/Klaus Polkowski

Auch Stieglitz und seine Kolleg:innen arbeiten schon lange an Hirn-Computer-Schnittstellen: Cochlea-Implantate etwa arbeiten nach diesem Prinzip und können manchen Hörgeschädigten ihr Hörvermögen zurückgeben und "fühlende" Prothesen erlauben es Menschen nach Amputationen, etwa mit ihrem neuen Arm nicht nur nach Dingen zu greifen, sondern auch ein "Greifgefühl" zu erleben, also durch Signale, die die Prothese ins Gehirn zurücksendet, zu erkennen, ob sie gerade einen harten oder weichen Gegenstand in ihrer künstlichen Hand halten. Hier wird Brain Reading also schon seit Jahren zu einer medizinisch-technischen Realität, die das Leben erkrankter oder verletzter Menschen deutlich verbessern kann.

Wo verläuft die Grenze zur Selbstoptimierung?

All diese Möglichkeiten und die Perspektiven, die ihnen innewohnen, bringen aber auch große Fragen mit sich. "Wir kommen da schnell auch in den Bereich des sogenannten Enhancements", gibt Thomas Stieglitz zu bedenken. "Kann ich mich schneller denkend machen, kann ich meine Leistungsfähigkeit erhöhen?"

Und dann sagt man vielleicht: Ich stelle nur noch Leute ein, die so ein Implantat haben, weil ich weiß, dass die über die Grenzen des Durchschnittlichen hinausgehen.

Thomas Stieglitz, Professor für Biomedizinische Mikrotechnik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die Gefahr, dass hier Grenzen überschritten werden und es letztlich auch um die "Aufrüstung" des eigenen Körpers gehen könnte, sollte dabei nicht unbedacht bleiben: "Da bedarf es guter Informationen in der Öffentlichkeit und eines ethischen Diskurses: Was bedeutet das eigentlich? Und was wollen wir?"

Wird der uralte Menschheitstraum zum Albtraum?

Der Weg zu einer richtigen Gedankenlese-Maschine, so sie denn überhaupt eines Tages Realität werden sollte, ist also noch weit. Trotzdem werfen die neuen technischen Möglichkeiten schon jetzt Fragen auf: Was geschieht mit den Daten, die dabei ausgelesen werden? Wo hört medizinische Notwendigkeit auf, wo fängt fragwürdige Selbstoptimierung an? Und wer trägt eigentlich die Verantwortung, beispielsweise bei Unfällen – der Mensch, die Maschine oder die Entwickler:innen hinter der Technologie?

Es ist ein uralter Menschheits-Traum und Menschheits-Albtraum, Gedanken auslesen zu können.

John-Dylan Haynes, Psychologe und Neurowissenschaftler an der Charité Berlin

Hirnforscher und Psychologe John-Dylan Haynes ist sich bewusst, dass biomedizinische Verfahren nicht immer nur gute, sondern auch schlechte Anwendungsmöglichkeiten mit sich bringen können. "Es gibt Dinge, die man sich wünscht, und Dinge, die man befürchtet. Wir brauchen klare ethische Regeln, wie man mit solchen Verfahren umgeht. Ohne wird es nicht gehen."

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