Evolutionsbiologie Warum die Natur den Sex erfand
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05. November 2020, 08:59 Uhr
Am Anfang allen Lebens stand die ungeschlechtliche Zellteilung. Sie war schnell und effektiv. Aber wieso hat sich irgendwann der Sex entwickelt und durchgesetzt? MDR Wissen Redakteur Karsten Möbius ist dieser Frage auf den Grund gegangen.
Warum hat die Natur eigentlich den Sex erfunden? Na weil er so geil ist! Diese typisch menschliche Sicht auf den Sex, diese typisch menschliche Antwort können wir gleich vergessen. Denn Liebe, Lust und Leidenschaft sind wahrscheinlich eher zufällige Beigabe.
Fühlen wir das Gleiche?
Erstens hatten die Zellen vor zwei Milliarden Jahren, als der Spaß losging, keine Hände zum Streicheln und keine Münder zum Küssen und zweitens gehen Wissenschaftler wie Prof. Diethard Tautz, Chef des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie, davon aus, dass Feuerwanzen, Weberknechte, Uhus oder Hunde, die es auch alle miteinander treiben, nicht so empfinden wie wir. Ganz abgesehen von den Pflanzen.
Ob das, was Menschen als Lust empfinden, auch bei Tieren die gleiche Empfindung ist, wissen wir nicht. Eigentlich wissen wir nicht mal von unseren nächsten Mitmenschen, ob es wirklich das Gleiche ist. Wir können es zwar mit gutem Recht vermuten, aber Empfindung ist etwas Persönliches.
Wahrscheinlich ist das, was wir beim Sex empfinden und wie wir fühlen ein menschliches Privileg. Wir müssen das mit dem Spaß als Grundidee oder Grundprinzip für den Sex also leider beiseite legen. Es wäre auch untypisch für Mutter Natur, etwas zu erfinden, nur um irgendeiner Spezies mal ein paar schöne Nächte zu bescheren.
Warum hat die Natur also den Sex erfunden?
Kurz gesagt, es bestand Handlungsbedarf. Die Evolution schien mit dem, was es bisher gab, in so einer Art Sackgasse. Die Zellteilung - damals das Nonplusultra der Fortpflanzungsarten - machte genau das, was sie konnte und wofür sie da war: Kopien von Zellen. Und Kopien sind natürlich nichts wirklich kreatives. Und wenn sich in den Zellen was veränderte, dann waren das höchstens Kopierfehler, Mutationen. Immer wieder mal eine und wieder eine - das ist auf Dauer nicht gut, erklären Prof. Diethard Tautz und Biophysiker Prof. Michael Lässig:
Es handelt sich eben um eine Frage der Zeitskala. Es würde letztlich zu einem Phänomen führen, was schon Manfred Eigen beschrieben hat als Irrtumskatastrophe. Das heißt also, dass irgendwann zu viele Fehler auftreten und das Ding den Bach hinunter gehen würde.
...und sie haben meistens auch keine große Überlebenswahrscheinlichkeit im Sinne der Evolution. Das heißt, nach ein paar Millionen Jahren sind die ausgestorben.
Man brauchte einen Mechanismus, der mal neuen Schwung ins Genom, in die DNA brachte. Fremde DNA wäre da gar nicht schlecht. Nur, wie sollten Zellen, die sich selbst teilten, quasi im eigenen Saft schmorten, da ran kommen?
Die Natur tastete sich langsam ran
An Sex mit einer anderen Zelle war noch nicht zu denken. Und wie das bei guten Ideen so ist, tastet man sich so langsam ran. Denn auch der Sex ist nicht an einem Tag erfunden worden:
Wir wissen nicht genau, was die ersten Mechanismen dafür waren. Wir wissen heute, dass Bakterien beispielsweise DNA aus der Umgebung aufnehmen können. Das heißt, es ist insofern keine Verschmelzung von Zellen, sondern einfach die DNA, die von toten Mitbakterien aufgenommen wird und dann in das eigene Genom eingebaut werden kann, um die Mutationen wieder zu ersetzen. Diesen Mechanismus muss es gegeben haben, sonst wäre Leben nie entstanden.
Tote Artgenossen fressen, um an fehlerlose DNA heranzukommen - und dabei mit etwas Glück vielleicht einen besonders guten, innovativen Genabschnitt erwischen. Das klingt nicht nach einem tollen Plan. Das muss Mutter Natur auch gespürt haben und fasste den folgenschweren Entschluss, lebende Zellen miteinander zu verschmelzen. Das Erbgut auszutauschen, damit fehlerhafte DNA zu ersetzen und dadurch auch neue Varianten auszuprobieren. Man nannte es damals noch nicht so und es fühlte sich wahrscheinlich auch noch nicht so an. Aber das war Sex, schwärmt Biologe Prof. Martin Lindner von der Martin-Luther Universität Halle Wittenberg:
Der Vorteil ist unvorstellbar groß. Denn sie kriegen bei der sexuellen Fortpflanzung, bei der Rekombination von Genmaterial, eine Variation, die ist unvorstellbar. Und die ist vorher nie dagewesen. Und dieses nie Dagewesene, das kann man nicht durch eine Zellteilung oder durch eine ungeschlechtliche Fortpflanzung herstellen.
Sex sei Dank!
Es geht nicht nur darum, dass wir dem Sex die Artenvielfalt verdanken, die wir auf unserem Planeten haben. Diese Varianz ist jeden Tag für uns von Vorteil und hilft uns beim Überleben. Denn Covid-19 ist nur eine leichte Andeutung, dass Leben ein ständiger Kampf, ein ständiger Wettlauf der Lebensformen ist, erklärt Prof. Diethard Tautz:
Die Idee ist, dass Parasiten sehr schnell evolvieren können, weil sie eine kurze Generationszeit haben und die Antwort der Wirte ist, dass sie eine hohe Variabilität insbesondere bei den Immunabwehrgenen entwickeln und dadurch den Wettlauf mit den Parasiten weitertreiben können.
Sex sei Dank! Warum die Natur den Sex erfunden hat, liegt also auf der Hand. Was aber Evolutionsbiologen bis heute nicht beantworten können, ist die Frage, wie es der Sex geschafft hat, sich überhaupt durchzusetzen? Dieses Problem wird als das Königsproblem der Evolution bezeichnet. Denn die Schwächen der Zellteilung, als auch die Vorteile der sexuellen Fortpflanzung, sind langfristige Prozesse. Erst nach vielen Generationen zeigt sich, wie vorteilhaft Sex ist und es dauert auch viele Generationen bis sich die Konsequenzen der Zellteilung zeigen.
Das ist eines der eigentlich immer noch ungelösten Probleme. Wir gehen davon aus, dass alles, was einen kurzfristigen Vorteil hat, mehr Nachkommen hinterlässt und sich durchsetzt in der Evolution.
Damit dürfte es den Sex bei all seinen vorteilhaften Eigenschaften eigentlich nicht geben. Denn kurzfristig ist er der Zellteilung hoffnungslos unterlegen, bilanziert Prof. Lindner:
Sie können in Nullkommanichts - bei Bakterien in 20 Minuten - eine Generation vervielfältigen. Dann erreichen sie damit eine Abdeckung des Lebensraums, der Konkurrenten das Leben schwer macht.
In der Geschwindigkeit ist der Sex schon von vornherein - schon vom Prinzip her - der Zellteilung unterlegen. Während bei der Zellteilung aus einer Zelle zwei entstehen, entsteht beim Sex aus zwei Zellen eine. Sex ist mindestens um den Faktor 2 langsamer.
Und nun ist es ja so, dass Individuen, die sich ohne Sex vermehren, sich eigentlich durchsetzen müssten, weil sie einfach doppelt so viele Nachkommen haben, als wenn sozusagen der männliche Teil einfach nur weggeschmissen wird.
Der Sex hat sich heimlich angeschlichen
Laut Biophysiker Prof. Michael Lässig ist die Grundsatzfrage, die das Königsproblem deutlich macht, folgende: Was musste passieren, um diesen Anfangsnachteil zu überwinden? Lässig und sein Team haben da eine Idee, eine Theorie, wie es gewesen sein könnte. Sie glauben, der Sex kam leise, quasi heimlich durch die Hintertür in die Welt:
Das heißt, das Bild, das wir in dem Modell haben, ist folgendes: Der Sex schleicht sich neutral ein in eine Population und dann kann er langsam den Vorteil entfalten, den die asexuelle Population nicht hat.
Das war extrem clever. Die Natur ließ Zellen entstehen, die beides konnten: Zellteilung und Sex. Und hatte dann beispielsweise nur jede tausendste Generation Sex, dann mischt sie das Erbgut hin und wieder - verliert aber nur wenig an Geschwindigkeit bei der Produktion von Nachkommen. Der unmittelbare Nachteil von Sex ist quasi zu vernachlässigen, aber der Vorteil an Genreparatur und Variantenreichtum ist enorm. Die Hefe ist dafür ein Beispiel. Im Wohlfühlmodus ist sie mit der Zellteilung unterwegs, wenn es ungemütlich wird, also der Stress zunimmt, versucht sie darauf mit Sex zu reagieren.
Mit diesem Trick begann wahrscheinlich vor zwei Milliarden Jahren der Siegeszug des Sex - bis ihn die Natur zum Prinzip machte. Aus dieser Idee wurden Mann und Frau, entstanden die Erotik, die Liebe - und vielleicht sogar der Rotwein und die Musik.
Sex und Zellteilung gehen Hand in Hand
Aber trotz Sex nutzen auch wir immer noch die Zellteilung. Hat einmal die Verschmelzung zweier Genome stattgefunden, schaltet die Natur sofort nach Befruchtung der Eizelle auf Zellteilung um, um diese neue Variante der Schöpfung wachsen zu lassen und möglichst stabil zu halten. Bleibt noch eine Frage: Wenn die Vorteile des Sex in seinem Variantenreichtum und seiner Flexibilität liegen, wieso verschmelzen eigentlich immer nur zwei Genome?
Das fragt sich auch Biologe Prof. Martin Lindner:
Warum gibt es eigentlich nur zwei Geschlechter? Warum wird eigentlich nicht aus drei Genomen kombiniert oder vier?
Das mit dem Sex zu dritt oder zu viert probieren ja manche schon hin und wieder. Allerdings ändert das nichts am Prinzip, dass immer nur zwei Genome miteinander kombiniert werden. Aber da Mutter Natur ja permanent im Schuppen werkelt, ist die eine oder andere neue Idee definitiv schon in Arbeit.
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