Brustkrebs Diagnose Krebs: Wie lebt man so, dass man nichts bereut?

12. Februar 2023, 13:01 Uhr

Einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren, dieses eine Elektro-Festival besuchen, den Sonnenaufgang am Meer erleben ... Alles Pläne und Wünsche, die MDR WISSEN Podcast-Host Daniela schon lange auf dem Zettel hat. Dann bekommt sie 2022 die Diagnose Brustkrebs. Plötzlich erscheint ihre Bucket List dringlich wie nie. Aber stehen da überhaupt die richtigen Dinge drauf? Wie findet man das heraus? Und warum brauchen wir erst die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit, um voll loszuleben?

Meine Challenge

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Dass Reporterin Daniela vom MDR WISSEN Podcast "Meine Challenge" seit ihrer Krebsdiagnose so viel wie noch nie zuvor über ihr Leben nachdenkt, darüber, was sie will und was nicht – das sei recht normal, sagt Lara Dreismann. Als Psychologische Psychotherapeutin und Psychoonkologin an der Medizinischen Hochschule Hannover arbeitet sie vor allem mit jungen Menschen, die die niederschmetternde Diagnose Krebs bekommen haben und nun gezwungen sind, sich mit ihrer eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen – und mit der Frage, wie ihr Leben bis dahin aussehen soll.

"Das Konzept dahinter heißt posttraumatisches Wachstum", erklärt Dreismann. "Das kann auch nach anderen Katastrophen oder traumatischen Erlebnissen eintreten, dass man an dieser Erfahrung wächst, mehr Klarheit im eigenen Leben hat, vielleicht auch achtsamer ist, bewusster lebt. Vielleicht auch Beziehungen nochmal anders sieht, nochmal sortiert: Wer tut mir gut? Auf wen kann ich zählen? Wie möchte ich leben?".

Das Gefühl, noch gar nicht richtig gelebt zu haben

Gerade für junge Menschen können sich diese großen Fragen schnell überfordernd anfühlen. So ging es auch Podcast-Host Daniela. Sie war 35, als der Krebs in ihr Leben gekracht ist.

Als ich die Diagnose bekommen habe, war in meinem Gehirn ein einziges Durcheinander: Ich muss doch noch dies, ich wollte doch noch jenes, ich hab doch mein Leben noch gar nicht richtig gelebt!

Daniela, Podcast-Host

Weil eine Krebserkrankung für junge Menschen oft nochmal andere Herausforderungen bedeuten kann als für Ältere, kümmern sich Organisationen wie die Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs um deren Belange. Auch Psychoonkologin Lara Dreismann gehört zum Netzwerk der Stiftung. Sie sagt: Natürlich haben auch ältere Krebskranke noch Lebenshunger und viele offene Wünsche. "Aber es ist ja dennoch etwas anderes, wenn man sich vielleicht auch schon beruflich selbstverwirklichen konnte oder auch in anderen Lebensbereichen schon viele Jahre so leben konnte, wie man es wollte. Und das ist als jüngerer Mensch vielleicht einfach noch mehr in Planung."

Wenn Alltag plötzlich das höchste Glück ist

Umso größer ist das Aufatmen, wenn Betroffene dem Krebstod doch nochmal entkommen können. Aber wie wirkt sich das posttraumatische Wachstum dann konkret auf die Gestaltung des wiedergewonnenen Lebens aus? Bei Podcast-Host Daniela stand erst einmal Party auf dem Programm, nachdem sie krebsfrei war. Wann immer es ihr Körper zugelassen hat, ist sie ausgegangen – und wollte dann am liebsten gar nicht mehr nach Hause, sondern dass diese Nächte nie enden.

Mehr Tanzen, mehr Euphorie, mehr Exzess, damit ich möglichst viel von diesem Leben spüre.

Daniela, Podcast-Host

Eine Nachtaufnahme zeigt den Umriss einer jungen Frau, die während einer Party zwischen anderen an einem Lagerfeuer steht und Bier aus der Flasche trinkt
Wenn der Krebs besiegt ist, feiern, die Nächte durchmachen. Das ist eine mögliche Reaktion (Symbolbild) Bildrechte: imago/Westend61

Durchaus nachvollziehbar, häufiger finde sich aber das Gegenteil: "Ich kenne viele, gerade auch Jüngere, die erstmal wieder Lust auf Struktur und Routine haben", meint Psychoonkologin Lara Dreismann. "Ich finde das biologisch gesehen ganz spannend, weil das Gehirn ja während der Diagnose und Behandlung eigentlich die ganze Zeit in einem Bedrohungs-Modus ist. Und dass man sich vielleicht dann eher danach sehnt, ein bisschen zur Ruhe zu kommen und nicht in neue Ausnahmesituation zu kommen."

Klar: Wer Monate oder sogar Jahre zwischen Krankenhausbett und Chemo-Tropf verbracht hat, für den können sich alltägliche Dinge wie ein Mittagsschlaf auf dem Sofa oder der Besuch einer Uni-Vorlesung plötzlich nach dem ultimativen Glück anfühlen. "Also ich kann mir schon vorstellen, dass auch viele Menschen eher dahin tendieren, sich dann ein bisschen zurückzuziehen, ein bisschen ruhig zu machen und vielleicht auch den Körper und auch das Gehirn ein bisschen zur Ruhe und aus dem Bedrohungsmodus wieder rauskommen zu lassen", so Dreismann.

Die Kuchendiagramm-Methode

Und dennoch bleibt die große Frage, die eben nicht nur für Menschen mit oder nach schlimmen Krankheiten gilt, sondern für alle: Wie lebe ich so, dass ich auf dem Sterbebett halbwegs zufrieden abtreten kann, statt mit einer riesigen Liste offener To-dos zu hadern? Welches Leben ist für mich das richtige?

Psychoonkologin Lara Dreismann hat dafür eine einfache Übung: Zunächst malt man zwei Kreise nebeneinander. Dann nimmt man mit dem ersten Kreis eine Analyse des Ist-Zustands vor, indem man ihn wie ein Kuchendiagramm in mehrere Stücke aufteilt: Wie viel Lebenszeit und Energie gehen wofür drauf? Wie viel Prozent nehmen Arbeit, Haushalt, Familie und Freunde, Hobbys ein?

Und dann, gern auch mit etwas zeitlichem Abstand, nehme man sich den zweiten, noch leeren Kreis vor, erklärt Dreismann: "Woraus bekomme ich Energie? Was tut mir gut? Wieder Kuchenstücke einteilen und schauen: Wie groß ist eigentlich die Energie, die ich aus Kontakten ziehe, aus Beziehungen, aus Begegnungen, um sich vielleicht mal so ein bisschen den Kontrast bewusst zu machen, wie diese beiden Kreise aussehen. Ich glaube, das hilft, um mal zu sortieren: Wie ist es – und wie hätte ich es vielleicht gerne."

Kleine Ziele helfen beim großen Ganzen

Doch mit dem bloßen Verschriftlichen von Lebenswünschen und Kuchendiagrammen ist es nicht getan, stellt Podcasterin Daniela fest: Auf ihrer persönlichen "Bucket List" stehen Begriffe wie Liebe, Nähe, Abenteuer und Euphorie. Klingt gut, nur: Euphorie lässt sich nicht einfach im Reisebüro buchen, Nähe entsteht nicht auf Knopfdruck.

Sich erreichbarere Ziele zu stecken, ist sinnvoller als sich Druck zu machen, möglichst ausgiebig zu leben.

Lara Dreismann, Psychologische Psychotherapeutin und Psychoonkologin

"Oft sind die Ansprüche sehr undefiniert, sehr pauschal. So etwas wie: Ich möchte nicht mehr so viel Stress haben", warnt Dreismann. Das Problem: "Woran misst man denn, ob man es dann nach der Erkrankung geschafft hat, nicht mehr so viel Stress zu haben? Oder kann man das nicht vielleicht auch besser definieren. Zum Beispiel, indem man sagt: Ich messe es daran, ob ich meine Pausen-Struktur einhalte bei der Arbeit", so die Psychoonkologin.

Sinn im Leben heißt nicht Sinn des Lebens

Ein erfülltes Leben, das möchten viele. Dafür kann es hilfreich sein, herauszufinden, wie sich das eigene Leben mit sinnstiftenden Inhalten füllen lässt. Die große Frage nach dem Sinn des Lebens, die wird auch Sinnforscher Daniel Spitzenstätter häufiger gestellt. Doch darum geht es bei seiner Arbeit nicht: Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychologie der Universität Innsbruck ist Spitzenstätter auf dem Gebiet der empirischen Sinnforschung und der existenziellen Psychologie unterwegs.

"Wir beschäftigen uns vor allem mit der Frage des Sinns im Leben. Und die Leute meinen aber meist den Sinn des Lebens, so eine Art umfassende Welterklärung, eine Bestimmung, die wir Menschen hier auf der Erde haben. Das sind auch sehr spannende Fragen, sie fallen aber eher in den Bereich der Philosophie oder Theologie", erklärt Spitzenstätter. "Wir befassen uns vor allem mit der Frage, wie Menschen in ihren Leben Sinn finden, welchen Bereichen sie besondere Bedeutung beimessen, was ihnen wichtig ist." Also eben: Welche Faktoren führen dazu, dass wir unser Leben als sinnstiftend und erfüllt wahrnehmen?

Lebensbedeutungen auf 26 Karten

Um herauszufinden, was für Menschen sinnstiftend ist, hat Spitzenstätters Forschungskollegin Tatjana Schnell von der Universität Innsbruck die sogenannte LeBe-Kartenmethode entwickelt. Diese Methode findet etwa in der psychologischen Einzelberatung Anwendung. Auf 26 Karten sind potenzielle Lebensbedeutungen vermerkt, etwa Spiritualität, Naturverbundenheit oder Moral. Anhand dieser 26 Karten erarbeitet man drei Stapel: Wo würde ich zustimmen? Wo nicht? Und wo bin ich mir nicht ganz sicher?

"Und dann versucht man in mehreren Durchgängen etwa fünf Lebensbedeutungen herauszuarbeiten, die für diese Personen besonders wichtig sind", erklärt Daniel Spitzenstätter. "Und mit diesen kann man dann weiterarbeiten in der Beratung: Wie kann man sie stärken? Wie kann man möglicherweise eine Diskrepanz zwischen 'Was ist mir wichtig?' und 'Was kann ich momentan wirklich in meinem Leben umsetzen?' verringern."

Der Wunsch, dass etwas von uns bleibt

Auch wenn die Gewichtung der 26 potenziellen Lebensbedeutungen eine höchst individuelle Angelegenheit ist, lassen sich innerhalb der Untersuchungen durchaus gewisse Häufungen nachweisen: "Religiosität, Spiritualität, Fürsorge und soziales Engagement sind Dinge, die sehr oft genannt werden", so Spitzenstätter." Und als besonders sinnstiftend hat sich über einige Studien hinweg immer wieder Generativität herausgestellt. Darunter versteht man das Bestreben, bleibende Spuren auf der Welt zu hinterlassen, die auch noch nach dem eigenen Tod fortwirken und sozusagen Positives von einem selbst hinterlassen.“

Damit liefert die Sinnforschung Ergänzungen zur sozialpsychologischen Terror-Management-Theory, derzufolge wir unsere Angst vor dem Tod kanalisieren, indem wir versuchen, symbolisch unsterblich zu werden – etwa indem wir uns für etwas engagieren, woran wir glauben, sei es ein Weltbild, eine Religion oder ein politisches Ziel. Größere Zusammenhänge, die auch dann noch da sind, wenn wir es selbst eben nicht mehr sind.

Sinnerfüllung als Gesundheitsfaktor

Wem es gelingt, sein Leben mit Sinn zu erfüllen, der profitiert davon nicht erst bei der Rückschau auf dem Sterbebett: Mehrere Studien haben gezeigt, dass Menschen, die ihr Leben als mit Sinn erfüllt beschreiben, tatsächlich weniger Depressionen haben, weniger Ängstlichkeit berichten, so Sinnforscher Daniel Spitzenstätter.

Sinnerfüllte Menschen haben weniger Schmerzen, leiden unter weniger Beeinträchtigungen durch körperliche Gebrechen, haben ein geringeres Sterblichkeitsrisiko, über alle Altersgruppen hinweg.

Daniel Spitzenstätter, Sinnforscher

Das liege zum einen daran, dass Sinnerfüllung Menschen dazu motiviere, sich gut um sich zu kümmern, weil sie sich und ihr Leben als wertvoll empfänden. "Der zweite Punkt ist, dass Sinn oft wie eine Art Stresspuffer wirken kann. Durch die Einbindung in ein größeres Ganzes können Menschen leichter mit Erkrankungen, Verletzungen, Traumata, mit Stressoren unterschiedlichster Art umgehen. Sie sind besser davor geschützt, ihre Perspektive und ihre Ziele aus den Augen zu verlieren durch dieses Eingebettet-Sein in etwas Größeres."

Der ewige Konjunktiv als Weckruf

Doch neben Kuchendiagrammen und Kartenmethoden gibt es noch einen weiteren Weg, herauszufinden, wie sich das eigene Leben gut und erfüllt leben lässt: Warum nicht die fragen, die das Ganze hinter sich haben? Genau das hat Christiane zu Salm getan. Als ehrenamtliche Sterbebegleiterin hat sie Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen, gebeten, Bilanz zu ziehen. Festgehalten hat sie diese Protokolle in ihrem Buch "Dieser Mensch war ich – Nachrufe auf das eigene Leben".

"Es ist ein Geschenk aller Sterbenden an die Lebenden, ein Weckruf", sagt zu Salm heute über das Buch. "In fast jedem Nachruf der Menschen, die dann gestorben sind, war irgendein Konjunktiv: Hätte ich doch nur, warum habe ich nicht früher ...? Das ist etwas, was mich sehr antreibt, diesen Weckruf zu nutzen."

Angst ist kein guter Lebensberater

Aber wie genau geht das? Lassen sich aus den Berichten Sterbender praktikable Anweisungen herausarbeiten, etwa Klassiker wie: weniger arbeiten, mehr reisen? Auch wenn Christiane zu Salm all diese individuellen und persönlichen Lebensbilanzen nicht pauschalisieren will – ein übergeordnetes Ergebnis lasse sich doch herauslesen:

Oft hervorgetreten ist das Bereuen bestimmter Entscheidungen, etwas nicht getan zu haben.

Christiane zu Salm, Autorin

Also etwa: sich nicht von seinem Partner getrennt zu haben, nicht einen neuen Job angenommen zu haben, nicht den Ort gewechselt zu haben. "Dieses Bereuen, nicht ins Ungewisse gesprungen zu sein. Das ist die einzige Pauschale, die ich gerne nennen würde, die Art und Weise unserer Entscheidungen: Sind die angstgeleitet oder sind die mutgeleitet."

Um herauszufinden, welche Entscheidungen es sind, die wir mutgeleitet treffen und umsetzen sollten, empfiehlt Christiane zu Salm eine Übung, die erst einmal einfach klingt – die aber auch Mut und mentale Anstrengung erfordert: "Heute noch die Augen schließen und sich dann gedanklich auf das eigene Sterbebett legen. Und dann auf das Leben zurückblicken."

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