Selbstgeschneiderte Stoffmasken im Schaufenster einer Schneiderei in Nürnberg. 6 min
Mund-Nase-Masken sind derzeit eines der wichtigsten Mittel, um die Ausbreitung der Virusinfektionen zu bremsen. (Symbolfoto) Bildrechte: imago images/Future Image

Covid-19 Wie zuverlässig sind die Corona-Zahlen?

24. Oktober 2020, 10:00 Uhr

Die Corona-Pandemie ist auch ein mathematisches Phänomen. Täglich werden aktuelle Werte gemeldet, politische Entscheidungen auf Basis von Modellrechnungen gefällt. Was verbirgt sich hinter den Zahlen?

Autorenfoto von Clemens Haug
Bildrechte: Tobias Thiergen/MDR

"Glaube nur der Statistik, die du selbst gefälscht hast", lautet ein fälschlicherweise Winston Churchill zugeschriebenes Bonmot. Der geflügelte Satz (den er so wahrscheinlich nie gesagt hat) drückt das Unbehagen aus, das umfangreiche Zahlenwerke bei Laien auslösen. Die Corona-Pandemie ist abseits ihrer Krankheitssymptome hingegen vor allem das: ein umfangreiches Zahlenwerk mit statistischen Kennziffern, Kurvenverläufen und Modellrechnungen. Bilden diese von Menschen erhobenen Daten und verarbeiteten Daten die Wirklichkeit ab? Oder liefern sie ein verzerrtes Bild? Kann die Pandemie allein mit einzelnen Kennwerten verstanden werden?

Sieht man genauer hin, zeigt sich: schon hinter vordergründig einfachen Werten wie der Zahl der täglichen Neuinfektionen verbergen sich komplexe methodische Probleme. MDR-Wissen hat mit verschiedenen Epidemiologen gesprochen und aktuelle Literatur zum Thema studiert. Dieser Beitrag soll - ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einen Überblick über die wichtigsten Kennzahlen und Fallstricke dahinter liefern.

Die Zahl der täglichen Neuinfektionen

In Pandemiezeiten ist die Zahl der neu gemeldeten Corona-Infektionen kaum noch wegzudenken. Seit Frühjahr werden täglich die neuen Werte durchgegeben. Schon früh wurde diskutiert, dass es in Deutschland regelmäßige Schwankungen gibt im Wochenverlauf. Weil die Gesundheitsämter die Daten zu unterschiedlichen Zeitpunkten an das Robert Koch-Institut weitergeben, liegen die Zahlen an den Wochenenden oft niedriger, als in der Mitte der Woche.

Entscheidender ist allerdings, dass die Zahl der insgesamt durchgeführten Tests und auch die Teststrategie darüber entscheidet, wie viele Infektionen registriert werden. Im Klartext: Wird weniger getestet, werden auch weniger Fälle entdeckt. Daher gilt: Hinter 6000 neu gemeldeten Fällen in einer Woche Ende März stehen höchstwahrscheinlich sehr viel mehr Infektionen, als hinter 6000 gemeldeten Fällen Anfang Oktober.

"Zu Beginn wurden eigentlich ausschließlich symptomatische Patienten untersucht. Wer keine Symptome aufwies, wurde nicht auf das Vorhandensein des Virus getestet", sagt André Karch, Leiter der klinischen Epidemiologie am Universitätsklinikum in Münster. "Das hat sich im Laufe der Pandemie mehrmals verändert. Mit der Kontaktverfolgung wurden auch Kontaktpersonen getestet. Dann kamen die Rückkehrer aus bestimmten Risikogebieten dazu, oder Sportler aus der Fußball-Bundesliga und vom Radsport." Inzwischen werden pro Woche etwa 1,2 Millionen Coronatests in Deutschland durchgeführt. Weil die Kapazitäten angesichts der steigenden Neuinfektionen aber knapper werden, werden erneute Änderungen überlegt.

Die Positivquote beim Coronatest

Über die Sommermonate hinweg lag der Anteil der positiven Testergebnisse bei den PCR-Tests auf Corona konstant bei etwa einem Prozent. Seit Anfang Oktober steigt dieser Anteil sprunghaft an, zunächst auf 2,5 Prozent in der 41. Kalenderwoche, jetzt auf 3,6 Prozent in der 42. Das ist viel und ein Warnzeichen für viele Epidemiologen. "Es bedeutet, dass die Zeit und die Kapazitäten der Gesundheitsämter kleiner werden, auch geringen Verdachtsfällen nachzugehen. Damit bleiben wahrscheinlich mehr Fälle unentdeckt", sagt Viola Priesemann, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation.

Das Robert Koch-Institut und die Gesundheitsämter hoffen, dass neue Antigentests, sogenannte Corona-Schnelltests, die entstandene Lücke wieder schließen können.

Die Dunkelziffer bei den Coronainfektionen

Viola Priesemann und andere Epidemiologen gehen davon aus, dass es gelungen ist, während der Sommermonate nahezu alle Corona-Infizierten auch zu testen. Während dieser Zeit war die Dunkelziffer also sehr gering. Das erlaubt über einen rechnerischen Umweg auch an eine Abschätzung für die Dunkelziffer jetzt zu gelangen.

Wir wissen, wie viele Fälle wir beobachtet haben. Und wir wissen relativ gut, wie viele Personen an oder mit Sars-CoV-2 gestorben sind und wie der zeitliche Abstand zwischen Infektion und erwartetem Sterbedatum ist. Wir kennen die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der infiziert ist, daran stirbt, das hängt vom Alter der Patienten ab. Wenn wir also die altersabhängige Sterbewahrscheinlichkeit nehmen, können wir aus den beobachteten Fallzahlen versuchen vorherzusagen, wie viele Todesfälle wir erwarten. Wenn diese Vorhersage quantitativ mit der beobachteten übereinstimmt, können wir davon ausgehen, dass die Dunkelziffer sehr gering ist.

Viola Priesemann, Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Umgekehrt bedeutet das: Liegt die Zahl der Todesfälle deutlich über der Prognose, ist die Dunkelziffer stark angestiegen.

Priesemann wünscht sich, dass die Gesundheitsämter zudem regelmäßig mitteilen, ob sie eine gemeldete Ansteckung zurückverfolgen konnten oder nicht. Fachlich korrekt formuliert lautet die Frage, wie hoch ist der Anteil der sogenannten Indexpatienten, also derjenigen, die am Anfang einer ermittelten Infektionskette stehen. Generell könnten die Anlässe für einen Test eine Menge Information für die Modelle liefern.

Für mich wäre es sehr interessant zu wissen, was der Testgrund war. Ist die Testung im Rahmen einer Kontaktnachverfolgung geschehen? Gehört sie zu einem lokalen Ausbruch? Oder sind Symptome aufgetreten, die dann zu einem Test geführt haben? Oder war es ein Screening, das regelmäßig durchgeführt wird, etwa beim Personal in Krankenhäusern oder Altenheimen? Wenn wir wüssten, was die Testgründe sind, könnten wir besser verstehen, welcher Anteil der Infektionen gut nachverfolgt worden ist und welcher Anteil überraschend auftritt, also wie hoch die Dunkelziffer wahrscheinlich ist.

Viola Priesemann, Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Belegte Intensivbetten und Zahl der Verstorbenen

Als die Zahl der neu gemeldeten Corona-Infektionen vor und nach der Urlaubszeit im Sommer anstieg, gab es zunächst einige Verwunderung darüber, dass viele Betten auf Intensivstationen frei blieben und wenig Menschen an der Krankheit starben. Schnell wurde klar: Vor allem jüngere Menschen steckten sich an. Die haben aber ein viel geringeres Risiko eine schwere Covid-19 zu bekommen, als die Älteren. Dass die über 80-Jährigen und andere Angehörige von Risikogruppen dauerhaft vom Infektionsgeschehen unberührt bleiben, sei unwahrscheinlich, befürchtet Viola Priesemann.

Wir haben einen sehr interessanten und auch sehr besorgniserregenden Effekt in den Daten gefunden. Bis Mitte September sind die Fallzahlen bei den über 60-Jährigen eigentlich fast konstant geblieben, obwohl die Fallzahlen bei den unter 60-Jährigen extrem gestiegen sind. Erst seit Mitte September scheint das Virus auf die älteren Bevölkerungsgruppen übergesprungen zu sein. Seit Mitte September scheint die Ausbreitung also außer Kontrolle geraten zu sein. Und der Schutz der Risikopersonen scheint nicht mehr so gegeben zu sein, wie das im Sommer gelungen ist.

Viola Priesemann, Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Mit anderen Worten: Die Zahl der an oder mit dem Coronavirus gestorbenen Menschen wird in den kommenden Wochen möglicherweise stark steigen und damit dem Anstieg der Neuinfektionen folgen. Und die Betten auf den Intensivstationen werden nach und nach gefüllt.

Wie viele Intensivbetten sind derzeit frei?

Hier gibt es eine Übersicht über die Zahl der Coronpatienten auf Intensivstationen und der Zahl der freien Betten: DIVI-Intensivregister.

Die Übersterblichkeit

Um einschätzen zu können, wie tödlich Krankheiten oder Naturkatastrophen – wie ein sehr heißer Sommer – sind, berechnen Statistiker, wie viele Menschen im Durchschnitt in der Vergangenheit gestorben sind. Dann können sie vergleichen: Weichen die aktuell beobachteten Werte davon ab? Das liefert aktuell statistische Hinweise darauf, wie gefährlich, beziehungsweise tödlich, das Coronavirus ist. Allerdings: Es lässt sich nie für alle Toten klären, ob etwa Corona wirklich die Todesursache war. Es lässt sich aber berechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass zwischen einer beobachteten Abweichung und einer vermuteten Ursache – in diesem Fall zwischen mehr gezählten Toten und der Zahl der Coronainfektionen – ein statistischer Zusammenhang besteht. Und diese Wahrscheinlichkeit ist hoch. Das Team der WDR-Redaktion Quarks und Co. erklärt das hier genauer.

Der Ct-Wert beim PCR Test auf Corona

Eines der vielen Phänomene beim neuen Coronavirus ist die Tatsache, dass viele Infizierte niemanden, aber wenige Infizierte sehr viele weitere Menschen anstecken. Als Ursache vermuten Virologen, dass bei der Infektion in ganz unterschiedlichem Ausmaß Viruslast ausgebildet wird. Bei wenigen Menschen kommt es zur überdurchschnittlich starken Bildung neuer Viren, was aber nicht unbedingt mit einem schweren Verlauf der Krankheit einhergehen muss.

Wie hoch die Menge der Viren in einer Probe ist, die bei einem PCR-Test gefunden werden, gibt der sogenannte Cycle-Threshold-Wert ("Ct-Wert") an. Er bedeutet übersetzt: Wie häufig musste die virale Erbinformation vervielfältigt werden, bevor der Test ein positives Signal geliefert hat. (Hintergrundinformationen dazu liefert das medizinische Labor Dr. Gärtner auf seiner Webseite in diesem Beitrag.) Als Faustregel gilt: Waren 30 oder mehr Durchgänge notwendig, um ein Signal zu bekommen, ist die Virenlast in der Probe so gering, dass ein Infizierter vermutlich nicht (mehr) ansteckend ist.

Doch die Angabe ist mit einigen Haken versehen, weshalb Nils Hübner, Medizinprofessor am Universitätsklinikum in Greifswald dagegen ist, den Wert bei jedem Testergebnis mit zu veröffentlichen.

Für uns ist der Ct-Wert hilfreich bei der Einschätzung: Wie hoch ist Viruslast, beispielsweise bei angestecktem medizinischen Personal, das wir in die Quarantäne geschickt haben. Wir können damit entscheiden, wann können diese Mitarbeiter wieder aus der Quarantäne heraus. Die Qualität dieser Aussage hängt aber davon ab, dass man den Abstrich richtig gemacht hat. Nur wenn die Abstrichtechnik stimmt, können die Ct-Werte miteinander verglichen werden. In der Hand eines Experten der alle Bedingungen kennt, ist das also eine hilfreiche Angabe. Für Laien wiederum nicht so sehr.

Nils Hübner, Uniklinik Greifswald

7-Tage-Inzidenz

Spätestens seit dem Herbst gilt die sogenannte 7-Tage-Inzidenz als der wichtigste Wert, auf dessen Grundlage politische Entscheidungen gefällt werden. Hierfür wird berechnet, wie viele Neuinfektionen über die vergangenen Tage pro 100.000 Einwohner aufgetreten sind. Auf diese Weise werden einerseits die Schwankungen ausgeglichen, die durch die unterschiedlichen Rhythmen entstehen, in denen die Gesundheitsämter ihre Daten an das Robert Koch-Institut weitergeben. (Siehe Zahl der Neuinfektionen). Zum anderen wird der Wert für einzelne Landkreise berechnet. So lassen sich regionale Unterschiede deutlich machen und je nach Lage vor Ort können die Behörden angepasst reagieren. Wo die Inzidenz niedriger ist, sind weniger scharfe Maßnahmen nötig, als bei hoher Inzidenz.

Dass der Wert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern als kritische Schwelle gewählt worden sei, lasse sich aber nicht bis ins letzte Glied hinein wissenschaftlich begründen, sagt Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen.

50 Fälle pro 100.000 Einwohner waren ein griffiger Wert, mit dem man arbeiten konnte. Mehrere Länder in Europa haben sich deshalb für diese Schwelle entschieden. Man kann aber nicht sagen 50 ist in irgendeiner Weise besser als 45 oder 55 oder 60. Aber man weiß: Wenn diese Schwellen überschritten werden, dann gibt es Effekte in der Bevölkerung. Einige Länder haben andere Werte gewählt, auch unsere Bundesländer arbeiten teilweise mit 30 oder 35 Fällen. Man muss da immer eine Balance halten zwischen: Welche Werte können realistisch erreicht werden, und wo können wir noch gut steuern?

Hajo Zeeb, Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie

Der Reproduktionsfaktor R

Anfang Juni war noch der R-Wert, die sogenannte effektive Reproduktionsrate, in aller Munde. Mit diesem Wert drücken die Epidemiologen die Geschwindigkeit aus, mit der sich das Virus verbreitet. R wird dabei aus den beobachteten Fallzahlen errechnet. Steigt die Zahl der Infizierten innerhalb einer Woche von 1000 auf 2000, hat jeder Infizierte in diesen sieben Tagen rechnerisch einen weiteren Menschen angesteckt.

In der Wirklichkeit kann das aber ganz anders abgelaufen sein, worauf in der Corona-Pandemie auch einiges hindeutet. André Karch von der Universitätsklinik Münster erklärt: "Beim Sars-Coronavirus-2 wissen wir eigentlich inzwischen recht gut, dass es eine große Heterogenität gibt. Viele Personen stecken niemanden und wenige Personen stecken eine große Anzahl von weiteren an."

Ein weiteres Problem liegt darin, dass ein gleicher R-Wert zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Pandemie ein ganz unterschiedliches Gewicht haben kann. Nils Hübner aus Greifswald verdeutlicht das mit einer Beispielrechnung. "Nehmen Sie zehn Patienten, die infektiös sind, und gehen sie von einem R-Wert von 3 aus. Dann werden 30 neue Personen angesteckt. Haben Sie aber 1.000 Infizierte und einen R-Wert von nur 1,3 – dann gibt es 1.300 neue Infektionen."

Hübner glaubt daher, dass der Wert vor allem für die Fachwissenschaftler interessant ist, in der öffentlichen Diskussion aber mehr Verwirrung gestiftet hat. Dafür hat er auch noch ein zweites Argument. "Das ist etwa so wie Autofahren, wenn man die ganze Zeit in den Rückspiegel guckt. Denn der R-Wert ist immer etwas, was nach hinten gerichtet ist und schaut, was in den letzten Tagen passiert ist, aber wenig darüber aussagt, was in Zukunft passiert."

Zuverlässigkeit der Modelle

In der Diskussion über Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie spielen Computer-Modelle eine zentrale Rolle. Mit den hier erklärten Daten werden Simulationen durchlaufen, um Vorhersagen anstellen zu können, wie sich die Pandemie weiter ausbreitet. Da die Pandemie nun schon fast ein Jahr in der Welt ist, kann man inzwischen auch überprüfen: Sind die von den Simulationen vorher gesagten Zahlen tatsächlich eingetreten?

Im Frühjahr erregte unter anderem das Modell der britischen Forscher um Neal Ferguson vom Imperial College in London eine große Aufmerksamkeit. Ferguson und Kollegen hatten für ein Land von der Größe des Vereinten Königreichs berechnet, wie viele Menschen an der Pandemie sterben würden, wenn es keine Gegenmaßnahmen gäbe und wie viele Patienten weniger sterben würden, wenn das öffentliche Leben beschränkt würde.

Jetzt im Herbst hat Ken Rice die Daten aus der Simulation mit den Daten aus der Wirklichkeit verglichen. Sein Fazit: Das Modell konnte die Realität erstaunlich gut vorhersagen.

Insofern stimmen die von Viola Prisemann und ihren Kollegen veröffentlichten aktuellen Modellrechnungen eher sorgenvoll. Sie kommen zum Ergebnis, dass die Strategie von Testen und Kontaktverfolgung ab R-Werten über 1 schnell an ihre Grenzen kommt und das Wachstum der Fallzahlen damit außer Kontrolle geraten könnte.

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