Neue Corona-Variante Omikron-Variante BA.2.75: Keine Impfstoff-Anpassung nötig?
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11. Juli 2022, 13:26 Uhr
Die Omikron-Variante BA.5 sorgt zur Zeit dafür, dass eine Corona-Sommerwelle durch Deutschland rollt und schon taucht wieder eine neue Mutation auf, die einigen Fachleuten Sorge bereitet: BA.2.75 ist in den vergangenen Tagen zunehmend ins Blickfeld gerückt. Die Variante breitet sich bereits rasch aus und könnte der Immunantwort des Körpers noch besser entkommen. Auch auf die angepassten Omikron-Impfstoffe könnte die neue Variante sich auswirken.
Während in Deutschland die BA.5-Sommerwelle gerade so richtig Fahrt aufnimmt, sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Evolution von Sars-CoV-2 beobachten, schon bei der nächsten Omikron-Subvariante. BA.2.75 – Spitzname Centaurus (dt. Zentaur) – wurde erstmals im Juni dieses Jahres in Indien entdeckt und verbreitet sich dort bereits recht rasant. Die Variante ist aber auch schon in anderen Ländern sequenziert worden – darunter neben Deutschland etwa auch in Kanada, Australien oder Großbritannien. Bisher seien das aber nur Einzelfälle gewesen.
Bei der Sub-Variante BA.2.75 handelt es sich vermutlich um eine sogenannte Variante der zweiten Generation, erläuterte Dr. Thomas Peacock vom Imperial College London in einer ersten Analyse auf Twitter. Sie stamme demnach von der Omikron-Linie BA.2 ab, also der, die im Winter und Frühjahr in Deutschland dominant war und nun von BA.5 abgelöst wurde. Zweite Generation bedeutet, dass die Variante aus einer bestehenden erfolgreichen Variante, die schon Eigenschaften wie eine bessere Übertragbarkeit entwickelt hatte, entstanden ist. Das bedeute, dass es für sie einfacher sei, die richtigen Mutationen zu finden, um sich noch besser zu verbreiten, so Peacock. Stelle man sich einen Berg vor, den es zu erklimmen gäbe, starteten diese Varianten schon bei halber Höhe, statt ganz unten anzufangen. Dementsprechend überrascht das schnelle Auftauchen einer zweiten Zweit-Generations-Variante nach BA.5 die Fachleute wenig. Die WHO kündigte an, BA.2.75 weiter genau beobachten zu wollen.
Immunflucht könnte stark wie nie sein
Bisher ist nur wenig über die neue Variante bekannt. Die Fachleute ziehen ihre Erkenntnisse und Befürchtungen zunächst aus den vorliegenden Sequenzierungen. Denn anhand der Stellen, an denen das Virus mutiert ist, können Rückschlüsse auf die Eigenschaften gezogen werden. Besonders wichtig sind dabei die Stellen am Spike-Protein, da das für die Bindung an die menschlichen Rezeptoren zuständig ist. Dementsprechend binden auch die Antikörper an das Spike-Protein. Je mehr es sich also verändert, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Virus der Immunantwort des Körpers entkommen kann.
Dem Sequenzierer Ulrich Elling vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien zufolge hat BA.2.75 zu den 29 Mutationen, welche die BA.2-Linie ohnehin schon im Spike-Protein hatte, noch acht weitere Mutationen. Bei einer derartigen Fülle an neuen Mutationen sei davon auszugehen, dass die Variante den Immunschutz stärker unterlaufen könnte, zumal die Mutationen vor allem in Bereichen des Spike-Proteins lägen, bei denen es bislang keine Veränderungen gegeben habe. Zum Vergleich: BA.5 hat nur drei zusätzliche Mutationen am Spike-Protein. Elling fürchtet außerdem, dass eine BA.5-Immunität nicht gegen BA.2.75 schützen könnte, da sich das Spike-Protein an elf Stellen voneinander unterscheide. Auch der Molekularmediziner Dr. Eric Topol vom Scripps Research Translational Institute befürchtet, dass B.2.75 die Variante mit der bisher größten Immunflucht sein könnte.
Wie schwer krank die neue Sub-Variante macht und darüber, wie ansteckend sie tatsächlich ist, ist bisher noch wenig bekannt. Dementsprechend kann auch noch niemand abschätzen, wo auf der Welt und wie schnell sie sich durchsetzen könnte bzw. wird. Außerdem waren in verschiedenen Teilen der Welt und sogar Europas verschiedene Omikron-Subvarianten unterschiedlich lange dominant, sodass Menschen auch unterschiedlich gut vor der neuen Variante geschützt sein könnten. In Deutschland sind Menschen, die im Winter eine BA.2-Infektion hatten, wahrscheinlich noch gut gegen BA.5 geschützt, doch das könnte sich Elling zufolge mit BA.2.75 ändern, wenn die Variante den BA.2-Immunschutz unterläuft.
Hilft der BA.1-Booster?
Für die Impfstoffforschung ist das Auftauchen dieser neuen Variante, die aus der BA.2-Linie abstammt keine ganz schlechte Neuigkeit, auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen könnte. Denn in der vergangenen Woche hatte erst die US-Zulassungsbehörde FDA darauf gedrängt, für den Herbst einen Covid-19-Booster-Impfstoff mit einem Omikron-Anteil zu entwickeln, der möglichst eine BA.4/BA.5-Komponente enthalten soll. Das ist insofern nachvollziehbar, als dass es bisher so aussah, als hätten BA.4 und BA.5 die Omikron-Linien BA.1 und BA.2 komplett verdrängt. Doch diese Entscheidung sorgt dafür, dass die Impfstoffhersteller ihre angepassten Omikron-Impfstoffe erneut übrarbeiten müssen.
Durch die Sub-Variante BA.2.75 könnte sich das nun wieder ändern. Dr. Thomas Peacock etwa geht davon, dass ein auf BA.1 angepasster Omikron-Booster auch gegen die neue Variante helfen könnte. Die angepassten mRNA-Impfstoffe von Moderna und Biontech enthalten bisher eine BA.1 Komponente. Weniger gut dagegen könnte ein auf BA.5 angepasster Wirkstoff gegen die neue Variante helfen, wie erst in der vergangenen Woche von der FDA bevorzugt.
Doch noch ist das alles nicht sicher. Erst in ein paar Wochen könne man sagen, was BA.2.75 für die angepassten Omikron-Impfstoffe wirklich bedeute, schätzen die Fachleute. Dazu brauche es deutlich mehr Daten. Fakt ist jedoch: Die Evolution des Coronavirus geht seit Auftreten der Omikron-Variante deutlich schneller als die Impfstoffe an die Subvarianten angepasst werden könnten. Es könnte also sein, dass ein BA.5-Impfstoff kaum mehr gegen BA.2.75 schützt oder aber gar nicht mehr nötig sein könnte, sollte die neue Variante sich global schnell dominant verbreiten.
Alte Impfstoffe gegen neue Variante
Das wäre dann eine ganz gute Nachricht, denn die Zulassung jedes angepassten Impfstoffs in der EU kostet viel Zeit. Die aktuellen BA.1-Omikron-Impfstoffe von Moderna und Biontech/Pfizer sind derzeit im Rolling Review-Verfahren der Europäische Arzneimittelbehörde (EMA). Diese rechnet mit einer Zulassung im September. Und es kann gut sein, dass das dann der einzige Omikron-Booster ist, den es gibt, weil die an BA.5 angepasste Variante dann noch im Zulassungsverfahren stecken könnte.
Einige Fachleute diskutieren deshalb derzeit über ein schnelleres Zulassungsverfahren, um flexibler auf neue Varianten reagieren zu können. Saisaonale Grippeimpfstoffe würden schließlich auch nicht nochmal in klinischen Studien getestet, so ein Argument. Aktuell müssen die Impfstoffhersteller bei jeder Anpassung ihres Impfstoffs erneut eine kleine klinische Studie mit einigen hundert Teilnehmern durchführen, in der nachgewiesen wird, dass ein angepasster Impfstoff bei den Nebenwirkungen nicht wesentlich schlechter ist als die bereits zugelassene Impfung. Und sie müssen nachweisen, dass die angepassten Versionen tatsächlich eine bessere Immunität bewirken. Diese Untersuchungen dauern jeweils Wochen bis Monate.
(kie)