Impfmüdigkeit Erhöht eine halb geimpfte Gesellschaft das Mutations-Risiko?

18. Juli 2021, 05:00 Uhr

Nach monatelanger Mangelwirtschaft gibt es in Deutschland jetzt genug Impfstoffe für alle. Eigentlich eine gute Nachricht, denn um die Delta-Variante zu stoppen, braucht es eine Impfquote von mindestens 85 Prozent auch bei den jüngeren Leuten, schätzt das RKI. Doch ob das erreicht werden kann, ist fraglich, denn die Impfungen laufen schleppender – die Impfmüdigkeit hat offenbar Einzug enthalten. Aber eine halb geimpfte Bevölkerung könnte zum Problem werden, warnen Fachleute.

Der Freistaat Sachsen ist das eindeutige Schlusslicht der Tabelle: Rund die Hälfte der Bevölkerung hat sich hier mindestens einmal impfen lassen. Der Bundesdurchschnitt liegt bereits bei rund 60 Prozent. Doch auch Thüringen und Sachsen-Anhalt liegen deutlich darunter. An Terminen und der Verfügbarkeit von Impfstoffen kann das in diesen Bundesländern nicht mehr liegen: Wer einen Impftermin möchte, bekommt den auch und vielerorts impfen die Zentren sogar ganz ohne Termin. Heißt das also, dass so langsam alle Menschen erreicht sind, für die Impfstoffe zugelassen sind und die sich impfen lassen wollen?

Eine gute Umgebung zum Mutieren?

Wenn sich tatsächlich ein derart großer Teil der Bevölkerung nicht impfen lassen würde, könnte das zu einer schwierigen Situation führen, warnen Expertinnen und Experten. Denn eine Umgebung, in der die eine Hälfte der Population immunisiert ist und die andere nicht, könnte in ihren Augen weitere problematische Mutationen des SARS-CoV-2-Virus begünstigen. Und tatsächlich wäre das auch im Forschungslabor genau die Umgebung, die man schaffen würde, um ein Virus zum Mutieren zu bewegen.

Wie groß wäre also die Gefahr, dass sich in einer halb geimpften Bevölkerung womöglich sogenannte Fluchtmutationen ausbilden? Als Fluchtmutation oder Escape Mutation werden Virus-Mutationen bezeichnet, die dafür sorgen, dass ein Virus der Immunantwort seines Wirtes entwischen kann.

Diese Frage kann man nicht mit Gewissheit beantworten. Aber wir müssen damit rechnen, dass sich das Virus weiter verändert.

Prof. Dr. Richard Neher, Universität Basel

Der wesentliche Faktor hier sei, wie viel Virus zirkuliere, erläutert der Spezialist für Virus-Evolution Richard Neher von der Universität Basel. "Wir sollten die aktuell niedrige Inzidenz nutzen, um so viele Menschen wie möglich zu impfen."

Dem dürfte auch Prof. Mirko Trilling, Virologe am Universitätsklinikum Essen, zustimmen. Er sagt, dass eine Abwartestrategie bezüglich der (Zweit-)Impfung aus evolutionärer Sicht aus folgenden Gründen ungünstig sei: "Eine Situation, in der die Bevölkerung nur teilweise geimpft ist, birgt leider eine spezielle Gefahr, weil sich das Virus in der ungeimpften Gruppe vermehrt, wobei es zufällig immer wieder zu geringfügigen Änderungen des Virus kommt." In dem anderen Teil der Bevölkerung 'teste' das Virus, ob die Veränderungen ihm helfen, Genesene oder Geimpfte zu infizieren. "Noch schlimmer wird die Situation, wenn die Geimpften durch unvollständige Impfungen auch nur eine unvollständige Barriere darstellen." Damit 'dressiere' man das Virus geradezu hin zu einer Umgehung von Immun- und Impfantworten, so Trilling. "Dass es in einem Impfprogramm zu solchen Phasen partiellen Schutzes kommt, lässt sich nicht vermeiden, da man nicht alle Menschen gleichzeitig impfen kann. Wir haben es aber in der Hand, wie lange diese Phase andauert." Wenn wir uns möglichst vollständig und zügig impfen und zweitimpfen ließen, werde die Gefahr deutlich geringer, erläutert der Essener Virologe. "Schnelles Impfen ist also viel besser als langsames Impfen – natürlich ist beides besser als gar nicht impfen!"

Besonders wichtig ist es, dass die Menschen sich auch ihre zweite Impfung geben lassen. So erläuterte der Virologe Florian Krammer von der Icahn School of Medicine am Mount Sinai dem Science Magazine schon vor einigen Monaten, dass eine weit verbreitete Verzögerung der zweiten Dosis einen Pool von Millionen von Menschen schaffen könnte, die zwar genug Antikörper hätten, um nicht zu erkranken, aber nicht genug, um das Virus abzutöten. Das wäre dann eine ideale Umgebung für die Entstehung von impfstoffresistenten Stämmen.

Im Zusammenhang mit den geplanten Wegfall aller Pandemie-eindämmenden Maßnahmen in Großbritannien diskutieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun ebenfalls ganz ähnliche Befürchtungen, wie aus einem aktuellen Artikel im Fachblatt Nature hervorgeht.

Eine Sache der Wahrscheinlichkeit

Allerdings heißt das nicht, dass eine halb geimpfte Bevölkerung automatisch zur Ausbildung einer Immunflucht führen müsse. Das ist eine Sache der Wahrscheinlichkeit, erläutert der Dresdner Virologe Prof. Alexander Dalpke. Eine unzureichend geimpfte Bevölkerung befördere solche Varianten nicht zielgerichtet. Er teilt die Befürchtung, dass sich neue Fluchtmutationen ausbilden könnten, die dem Immunsystem komplett entkommen, eher nicht "in dem Ausmaß". Es gebe da aber bestimmt unterschiedliche Ansichten unter den Fachleuten, ergänzt er.

Infografik. Vereinfachte Darstellung zeigt zwei Coronaviren: Bälle mit markanten Krönchen bzw. Stöpseln darauf. Erster Virus mit Beschriftung "Originalvirus". Zweiter Virus mit Beschriftung "Variante/Mutant". Auf dem zweiten Virus sind weniger Stöpsel zu sehen. Pfeile zeigen darauf mit Beschritung "Kopierfehler/Mutation".
Mutationen sind Kopierfehler, die entstehen, wenn sich das Virus vermehrt. Bildrechte: MDR

Dalpke begründet seine Zurückhaltung damit, dass das Sars-CoV-2-Virus eigentlich vergleichsweise schlecht mutiere. Es habe eine Korrekturfunktion, die schon viele solcher Kopierfehler bei der Vermehrung des Virus in der Zelle erschwerten. Kommen für ein Virus immer weniger Wirte in Betracht, weil sie bereits immun sind, dann gerät es unter einen sogenannten Selektionsdruck. Es setzen sich also Varianten durch, die den Vorteil haben, der Immunantwort zu entkommen. Doch bisher sei dieser Selektionsdruck auch schon sehr hoch gewesen – insbesondere in Regionen mit extrem hohen Infiziertenzahlen wie in Brasilien und Südafrika, so Dalpke. Und dort hätten sich ja Varianten mit dem Vorteil, das Immunsystem zumindest teilweise zu unterlaufen, gebildet. Es sei zwar nicht auszuschließen, dass es noch eine Variante geben wird, die das komplett schafft, aber er habe keine besonders große Angst, dass das tatsächlich passiert.

Das ist eine Wahrscheinlichkeitsfrage. Ich halte das nicht für so wahrscheinlich angesichts der Biologie dieses Virus.

Prof. Dr. med. Alexander Dalpke, Universitätsklinikum Dresden

Denn die sogenannte Fitness würde darunter leiden. Die Mutation müsste genau in dem Bereich sein, in dem das Virus an die menschliche Zelle bindet – sie müsste demnach dafür sorgen, dass Antikörper nicht mehr binden und das Virus gleichzeitig infektiös bleibt. Das hätten wir bei den hohen Fallzahlen bisher wohl schon gesehen, wenn es möglich wäre, schlussfolgert der Dresdner Virologe. Er hält die Immunflucht-Mutationen also für kein wahrscheinliches Szenario, dass in einer halb geimpften Bevölkerung passiere.

Ich glaube, dass die massive, breite Zirkulation, die wir ohne die Impfung haben, das viel größere Problem ist. Ein Beispiel dafür ist, dass ein Teil der Mutanten schon aufgetaucht ist, bevor überhaupt Impfungen ausgerollt wurden.

Prof. Dr. med. Mathias Pletz, Universitätsklinikum Jena

Auch der Jenaer Infektionsbiologe Prof. Mathias Pletz weist auf den Selektionsdruck hin, den die natürlichen Infektionen bereits auf das Virus ausgeübt haben. Er sieht auch in fehlenden Zweitimpfungen kein akutes Problem: "Ich glaube, wenn wir zum Beispiel viele Menschen haben, die nur eine Impfung haben, dass es vielleicht trotzdem ein Vorteil sein kann gegenüber der natürlichen Zirkulation des Virus." Denn man wisse, dass bei Menschen, die einmal geimpft sind, das Immunsystem schneller reagiere und das Virus dann auch schneller eliminiere als bei Ungeimpften.

Weniger Virus – weniger Mutationen

Generell sind sich alle Fachleute einig: Die beste Situation, um mögliche neue problematische Mutationen zu vermeiden, ist möglichst wenig zirkulierendes Virus. "Der Punkt ist einfach, dass dieses Virus aufgrund der massiven Zirkulation, die wir erleben, rein stochastisch extrem viele Möglichkeiten hat, Varianten auszubilden", sagt der Jenaer Pletz.

Wenn es uns gelingt, die globale Zirkulation des Virus zu reduzieren, dann wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass neue Varianten entstehen, zurückgehen.

Prof. Dr. med. Mathias Pletz, Universitätsklinikum Jena
Computergrafik eines Coronavirus (in roter Farbe dargestellt) mit deinen Spikeproteinen (hier in organge). In weiß dargestellte Antikörper, die wie dreizackige Sterne aussehen, verhaken sich in den Spikeproteinen.
Je weniger Virus zirkuliert, desto besser. Bildrechte: IMAGO / Science Photo Library

Dem Dresdner Virologen macht das schleppende Impftempo deshalb Sorge. Er appelliert, dass alle, die die Möglichkeit haben, sich impfen lassen sollten. "Das wichtigste und einzig wirksame Instrument wird nicht ausreichend wahrgenommen", bilanziert Dalpke. Deshalb müsse nun alles darangesetzt werden, die Impfraten vor dem Herbst doch noch weiter hoch zu bekommen. "Um den Druck auf das Gesundheitssystem zu verringern, ist es insbesondere wichtig, dass über 90 Prozent der Menschen ab 60 geimpft sind", stellt der Basler Professor Neher fest. Denn das Virus wird im Herbst wiederkommen – mit möglicherweise wieder schwereren Infektionen.

Delta ist so extrem erfolgreich, dass es auch im Sommer zirkulieren wird. Ich persönlich glaube aber, dass Infektionen im Sommer nicht so schwer verlaufen wie Infektionen im Winter.

Prof. Dr. med. Mathias Pletz, Universitätsklinikum Jena

Und dann gebe es bei Delta auch noch viele offene Fragen: "Macht Delta wirklich schwerer krank? Wenn es schwerer krankmacht, betrifft es auch junge Erwachsene? Und was macht Delta mit den Kindern?" Und so fasst Pletz zusammen: "Es kann leicht verlaufen oder es kann eben, wenn die drei Fragen alle mit Ja beantwortet werden, auch noch mal richtig schlimm werden."

(kie)

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