Medizin-Forschung Gender-Medizin: Corona-Forschung ist Männer-fixiert
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12. Juli 2021, 12:30 Uhr
Aktuelle Studien, die das neue Coronavirus und die Behandlung von Covid-19 untersuchen, fokussieren sich überwiegend auf Männer. Das zeigt die Analyse eines internationalen Forschungsteams.
Wohl noch nie wurde weltweit zeitgleich so vehement am gleichen medizinischen Thema gearbeitet, wie während der SARS-CoV-2-Epidemie. Obwohl die Covid-19-Erkrankung bei Männern und Frauen oft verschiedene Krankheitsverläufe zeigt, Männer häufiger in Kliniken behandelt werden müssen und im Zusammenhang mit dem Virus eher sterben, weiß man noch nicht, woran das liegt. Aber die Schlussfolgerung aus dieser Beobachtung müsste eigentlich lauten, dass Männer und Frauen medizinisch verschieden behandelt werden sollten. Bei der Ansteckungsgefahr ist es dagegen eher umgekehrt, Frauen sind häufiger in Pflegeberufen tätig und daher einem größeren Infektionsrisiko ausgesetzt. Und genau das müsste eigentlich in klinischen Studien und in der Gesundheitspolitik berücksichtigt werden, sagt die Ärztin Dr. Sabine Oertelt-Prigione. Wird es aber nicht. Das zeigt eine Analyse, die die Professorin für Geschlechtersensible Medizin an der Uni Bielefeld zusammen mit einem Forschungsteam aus den Niederlanden und Dänemark erarbeitet hat.
4.420 Studien - nur wenige unterscheiden Ergebnisse nach Geschlecht
Dafür wurden 4.420 Corona-Forschungsarbeiten aus der Zeit von Januar 2020 bis Januar 2021 daraufhin angeschaut, ob im Studiendesign Männer und Frauen explizit berücksichtigt wurden oder nicht. Die Studien waren alle in der internationalen öffentlichen Datenbank ClinicalTrials.gov eingetragen worden. Ergebnis: 935 Arbeiten (21,2 Prozent) fokussierten sich bei der Rekrutierung auf das Geschlecht als einzige Kategorie für Testpersonen; 237 Arbeiten planten eine geschlechtsspezifische Auswertung oder repräsentative Stichproben, in 124 Arbeiten, bzw. 2,8 Prozent waren die Testpersonen jeweils nur Frauen oder nur Männer. 100 dieser Studien untersuchten, wie sich das Virus oder eine bestimmte Behandlung auf Frauen auswirkt; die anderen 24 Studien beleuchteten die Effekte auf Männer. Studien mit dem Fokus auf Frauen wollten meistens herausfinden, wie Covid-19 den Ausgang von Schwangerschaften beeinflusst.
Wenn es eilt, fokussiert sich die Forschung auf Männer
Das internationale Forschungsteam um die Bielefelder Wissenschaftlerin Dr. Sabine Oertelt-Prigione warnt: Hier entsteht eine Wissens-Lücke. Wenn das Geschlecht als Variable in Analysen ausgeschlossen wird, bestehen höhere Risiken für Nebenwirkungen und eine gesundheitliche Ungleichbehandlung. Sie fordern deshalb für die Covid-19-Forschung zum einen eine geschlechtsspezifische Methodik, zum anderen umfassendere Analysen geschlechtsspezifischer Auswirkungen und Erfahrungen.
Aber warum bleibt der geschlechtsspezifische Unterschied so oft außen vor? Wissenschaftlerin Oertelt-Prigione sagt: "Manche Forschenden befürchten, sie müssten mehr Proband*innen einbeziehen, wenn ihre Studie Geschlechtsunterschiede berücksichtigen soll. Diese Forschenden nehmen an, dass die Zusammenstellung der Untersuchungsgruppe dadurch länger dauert. Insbesondere in der frühen Phase der Pandemie haben sie unter hohem Zeitdruck gearbeitet." Und ihre Kollegin, Dr. Emer Brady von der Uni Aarhus in Dänemark ergänzt: "Wir sind davon ausgegangen, dass im Verlauf der Pandemie zunehmend mehr Studienprotokolle mit dem Fokus Geschlecht und Gender auf ClinicalTrials.gov registriert werden. Leider war das nicht der Fall." Aber hatte das Forschungsteam tatsächlich ein anderes Ergebnis erwartet? Professorin Oertelt-Prigione schreibt in einer Email an MDR WISSEN: "Wir haben eine begrenzte Berücksichtigung erwartet, aber diese Zahlen haben uns doch überrascht. Vor allem die Tatsache, dass sich im Laufe der Pandemie, trotz Medienberichterstattung, die Berücksichtigung nicht gesteigert hat."
Warum schaut die Forschung nicht auf den kleinen Unterschied?
Der fehlende Blick in der Medizinforschung auf die Unterschiede zwischen den Geschlechtern ist kein Corona-spezifischer Effekt. Bekannt ist das längst auch zum Beispiel bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bei Frauen werden sie seltener diagnostiziert, weil sie in anderen Altersgruppen andere Symptome zeigen als Männer. Die Medizin ist dabei auf die Erkennung der Symptome bei Männern ab einem bestimmten Alter geeicht, aber eben nicht auf die von Frauen.
Oder wie Prof. Dr. Sandra Eifer im Gespräch mit MDR WISSEN über Gendermedizin sagte: "Man könnte sagen, der Patient ist im Deutschen männlich und so wird ER behandelt. Die Richtlinien sind im Prinzip eher am männlichen Patienten orientiert." Das schlägt sich nicht nur in der Früherkennung von Herz-Kreislauf-Symptomen nieder, sondern auch in der Medikamentierung, mit verschiedenen Nebenfolgen. Doch wenn Medikamente nur an Männern getestet werden, werden logischerweise auch nur Nebenwirkungen erkannt, die bei ihnen auftreten. Was bei Frauen passieren kann, wird gar nicht als Nebenwirkung erfasst. Weder in der regulären Medikamentenforschung noch in der akuten zur Covid-19 entspricht das Geschlechterverhältnis der Testpersonen der tatsächlichen Geschlechterprävalenz bei einem bestimmten Krankheitsbild.
Die Medizin der Zukunft muss Geschlechtsunterschiede in den Blick nehmen
Die Zukunft der Medizin muss Professorin Oertelt-Prigione zufolge anders aussehen: "Wir sehen zunehmend, dass Frauen und Männer auf die Behandlung mit Medikamenten unterschiedlich reagieren. Wenn dieser Zusammenhang in Studien ignoriert wird, kann das langfristig zu ernsthaften, ungewollten Nebeneffekten führen. Die Geschlechterunterschiede in den Blick nehmen, hat bei Covid vielfach dazu beigetragen, die Infektion besser zu verstehen. Es wird uns auch helfen, die medizinischen Behandlungen zu verbessern. Unterschiede in Bezug auf das Geschlecht zu berücksichtigen, ist ein unerlässlicher Schritt in Richtung einer personalisierten Medizin." Vielleicht hilft da auch ein Blick in andere Länder? "Kanada, Österreich und Niederlande sind Deutschland um einiges voraus", sagt die Forscherin. In Österreich, vor allem in Wien und Innsbruck, sei das Thema beispielsweise in der Lehre in allen Gesundheitsberufen verankert. In den Niederlanden gibt es eine Vernetzung zwischen den Akteur:innen und dementsprechend eine schnellere Umsetzung in die Praxis.
Die Forschungsarbeit wurde im Fachmagazin Nature veröffentlicht. Hier kann man sie im Original lesen.
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