Pandemie-Prognose aus Mittweida Vier Szenarien für die nächste Corona-Welle im Herbst
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13. Juli 2021, 12:55 Uhr
Eine wissenschaftliche Modellsimulation für Deutschland besagt, dass die vierte Corona-Welle kommen wird. Auch bei recht hohem Impfschutz. Ohne Gegenmaßnahmen gäbe es demnach im Herbst viel mehr Infizierte als je zuvor.
Die Delta-Variante ist in Deutschland vorherrschend, so viel ist sicher. In Kalenderwoche 25 war sie schon für fast 60 Prozent aller Neuinfektionen verantwortlich. Jetzt haben wir Kalenderwoche 28. Deltas Anteil wird aktuell vermutlich schon bei deutlich über 80 Prozent liegen. Aber das werden wir erst in etwa zwei Wochen erfahren, wenn die Proben aktueller Infektionen sequenziert wurden.
Deutschland wird Deltas Ansteckungskraft (etwa 1,6-mal so ansteckend wie Alpha und etwa doppelt so ansteckend wie der Wildtyp von vor einem Jahr) im Herbst zu spüren bekommen, sagt Professor Kristan Schneider.
Der Mathematiker von der Hochschule Mittweida mit dem Spezialgebiet Modellbildung und Simulation ist international anerkannter Experte in der Modellierung und Analyse von Infektionskrankheiten und kooperiert mit weltweit zahlreichen Gesundheitsbehörden und Instituten, die auf Infektionskrankheiten spezialisiert sind.
Seit Beginn der Pandemie entwickelt er zusammen mit internationalen Partnern Covid-19-Modellsimulationen. Er hat die zweite und die dritte Welle vor vielen anderen vorhergesagt.
Vierte Welle
Es wird auch eine vierte Welle geben, sagt Kristan Schneider. Aber in welcher Form, Stärke und Dauer – das hängt von den Gegenmaßnahmen ab. Und die können auch Mathematiker noch nicht kennen, gerade in Zeiten einer bevorstehenden Bundestagswahl.
Wann ist der Gesetzgeber wie beschlussfähig? Und wann will und wird er der Lockdown-müden Bevölkerung wie viel zumuten?
Eine Menge Fragezeichen also, die keine "Genau so wird es kommen!"-Vorhersage gestatten. Kristan Schneider hat deshalb in seiner Simulation mehrere Szenarien erstellt sich dabei immer an Maßnahmen orientiert, die im Jahr 2020 getroffen wurden.
Er hat MDR Wissen die daraus errechneten Daten zur Verfügung gestellt.
Szenarien 1 und 2: Keine oder wenige Gegenmaßnahmen
Die ersten zwei Szenarien sind die mit den wenigsten Gegenmaßnahmen:
1.) "Keine Gegenmaßnahmen" bedeutet: Es herrscht durchgängig Sorglosigkeit wie im Sommer 2020, dem Virus wird freier Lauf gelassen.
2.) "Lockdown light" bedeutet: Alles läuft zunächst wie im Sommer 2020, verschärfte Maßnahmen ab Anfang Oktober, aber kein harter Lockdown mit Schulschließungen.
Die Zahl der täglichen Neuinfektionen bei diesen (Nicht-)Maßnahmen ist laut Simulation enorm. Erste, zweite und dritte Welle sind im Diagramm kaum noch wahrnehmbar, so viel höher wären die Infektionszahlen im Herbst, vor allem ohne jegliche Gegenmaßnahmen.
Und das alles trotz recht hoher Impfquote in der Bevölkerung. Delta träfe dann vor allem die Ungeimpften. Aber nicht nur.
Bei den Fallzahlen muss man aufpassen. Je mehr getestet wird, desto mehr wird auch entdeckt.
"Wenn Geimpfte weniger getestet werden", so Schneider weiter, "ist die Dunkelziffer der Infektionen höher. Geimpfte haben zwar weniger oft einen schweren Verlauf, wenn allerdings zehnmal so viele Menschen infiziert werden, sind die Krankenhäuser trotzdem wieder ausgelastet. Hinzu kommt, dass die Delta-Variante aggressiver ist und auch bei jüngeren Menschen schwere Krankheitsverläufe auslösen kann."
Szenarien 3 und 4: Stärkere Gegenmaßnahmen
Die nächsten beiden Szenarien brächten im Herbst deutlich niedrigere Fallzahlen:
3.) "Harter Lockdown" bedeutet: Man macht alles wie im vergangenen Herbst, also verschärfte Maßnahmen im September/Oktober und ab 27. Oktober starke Beschränkungen mit Schulschließungen.
4.) "Notbremse wird reaktiviert" bedeutet: Die zum 30. Juni ausgelaufene sogenannte Bundes-Notbremse tritt wieder in Kraft, mit denselben Vorgaben und Inhalten wie damals, also je nach regionaler Inzidenz abgestuften Maßnahmen.
Auch in diesen beiden Szenarien wird von einer vierten Welle gesprochen werden müssen. Aber sie würde dann niedriger sein als die zweite und dritte. Und vor allem wäre sie um Größenordnungen niedriger als in den ersten beiden Szenarien oben. Schneider: "Wie stark sich das Virus ausbreiten kann, hängt auch stark davon ab, wie das Wetter im Herbst wird und wie sehr die Menschen sich an Kontaktbeschränkungen und Schutzmaßnahmen halten."
Viele Geimpfte und Genesene sind sicher der Meinung, sie seien jetzt geschützt und müssten sich an nichts mehr halten – das ist eine gefährliche Einstellung.
Ohne Mutationen keine vierte Welle
Erstaunlich ist, welche Daten die Modellsimulation für die hypothetische Annahme liefert, dass es die Varianten Delta (indische Mutante) und Alpha (britische Mutante) nie gegeben hätte, wenn also der Wildtyp des Virus noch immer vorherrschend wäre, so wie im Sommer 2020.
Dann hätte die dritte Welle wohl keinen eigenen Namen bekommen, sondern wäre nur ein Ausläufer der zweiten Welle gewesen. Und eine vierte Welle käme jetzt schon gar nicht auf uns zu. Die jetzige Impfquote in der Bevölkerung würde ausreichen, die Infektionskurve sehr flach zu halten, selbst bei völlig ausbleibenden anderen Gegenmaßnahmen.
Aber das Virus ist eben mehrfach mutiert. Und bei Deltas höherer Ansteckungskraft genügt der derzeitige (bzw. der im Herbst wahrscheinlich erreichte) Impfstand nicht, um die vierte Welle zu verhindern.
Es führt kein Weg an der Impfung vorbei! Es ist wichtig der Bevölkerung klar zu machen, dass Normalität erst dann wieder einkehren kann, wenn die Bevölkerung geimpft ist und bessere Behandlungen gegen das Virus entwickelt worden sind.
Über den Haufen geworfen werden könnten alle Modellsimulationen, falls sich eine neue Mutation des Virus bildet und durchsetzt. Entweder eine, die noch ansteckender ist als Delta, oder eine, gegen die die vorhandenen Impfstoffe nicht wirken.
Wird so eine neue Mutation kommen? Da geht es Kristan Schneider wie bei der Frage, welche politischen Entscheidungen wohl im Herbst getroffen werden: Das kann er nicht wissen.
(rr)
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