Gesundheit Kindheitstraumata lassen Körper und Gehirn schneller altern

02. Februar 2022, 16:42 Uhr

Traumata können nicht nur die psychische Gesundheit schädigen, sondern sich auch direkt auf den Körper und das Gehirn auswirken. Das haben Forscher der Harvard-University in den USA jetzt herausgefunden.

Maria ruft an und sagt unser Treffen ab - schon wieder. "Du weißt doch", druckst sie herum. "Ich muss essen." Was nach Genuss klingt, ist bei ihr Zwang. Sie isst so viel, bis sie sich übergeben muss. Ihr Körper krampft dann stark, bis er alles herausgebrochen hat. Nach dieser ganzen Anspannung sinkt Maria erschöpft und glücklich in ihren Sessel. Essen und Kotzen als Entspannung. Während andere in die Sauna gehen, steckt sich Maria den Finger in den Hals. Das macht sie seit sie 16 Jahre alt ist und der jahrelange Missbrauch durch ihren Großvater die Tagesdecke ihres Bewusstseins durchbrach. Heute ist sie 38. Neulich bat mich Maria, ein Foto von ihr zu machen. Für ihre Beerdigung. Ich solle jetzt nicht so geschockt gucken, erklärte sie trocken und schaufelte dabei Kaffeepulver in die Bodum-Kanne. "Bulimie-Kranke sterben eben früher."

Traumatische Kindheitserlebnisse können sich auch körperlich auswirken

Traumata stecken in unseren Köpfen. Manche erben wir sogar in unseren Genen. Aber können sich Spuren eines Traumas auch direkt auf die Biologie, auf unseren Körper auswirken? Das haben jetzt Forscher der American Psychological Association untersucht. Dabei fanden sie Erstaunliches heraus: Kinder, die schon früh im Leben ein Trauma durch Missbrauch oder Gewalt erleiden, zeigen schneller biologische Zeichen des Alterns als Kinder, die noch nie Widrigkeiten erlebt haben. Die Studie untersuchte drei verschiedene Anzeichen des biologischen Alterns - frühe Pubertät, Zellalterung und Veränderungen in der Gehirnstruktur - und fand heraus, dass die Traumaexposition mit allen dreien in Zusammenhang steht.

"Unsere Studie deutet darauf hin, dass das Erleben von Gewalt den Körper auf biologischer Ebene schneller altern lassen kann", sagte Dr. Katie McLaughlin, außerordentliche Professorin für Psychologie an der Harvard-University und Seniorautorin der Studie, die in der Zeitschrift Psychological Bulletin veröffentlicht wurde. "Traumata sind ein starker Prädiktor für spätere Gesundheitsauswirkungen im Leben - nicht nur für psychische Folgen wie Depressionen und Angstzustände, sondern auch für körperliche Auswirkungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs."

Bislang verschiedene Belege

Den Wissenschaftlern zufolge fanden frühere Forschungen gemischte Belege dafür, dass Schwierigkeiten in der Kindheit mit einem beschleunigten Alterungsprozess zusammenhängen. Diese Studien untersuchten jedoch viele verschiedene Arten von Widrigkeiten - Missbrauch, Vernachlässigung, Armut und mehr - und mehrere verschiedene Messgrößen des biologischen Alterns. Um die Ergebnisse zu entwirren, beschlossen McLaughlin und ihre Kollegen, zwei Kategorien von Widrigkeiten getrennt zu betrachten: bedrohungsbezogene Widrigkeiten wie Missbrauch und Gewalt und deprivationsbedingte Widrigkeiten wie körperliche oder emotionale Vernachlässigung oder Armut.

Gewalt und Missbrauch wirken sich auf unsere Zellen aus

Die Forscher führten eine Metaanalyse von fast 80 Studien mit insgesamt mehr als 116.000 Teilnehmern durch. Sie fanden heraus, dass Kinder, die ein bedrohungsbedingtes Trauma wie Gewalt oder Missbrauch erlitten, eher früh in die Pubertät kommen und auch auf zellulärer Ebene Anzeichen einer beschleunigten Alterung zeigen - einschließlich verkürzter Telomere, den Schutzkappen an den Enden unserer DNA-Stränge, die sich mit zunehmendem Alter abnutzen. Kinder, die Armut oder Vernachlässigung erlebten, zeigten jedoch keines dieser Anzeichen des vorzeitigen Alterns.

Kindheitstraumata lassen Hirnrinde schrumpfen

In einer zweiten Analyse überprüften McLaughlin und ihre Kollegen systematisch 25 Studien mit mehr als 3.253 Teilnehmern. Damit wollten sie herausfinden, auf welche Art und Weise sich die Widrigkeiten des früheren Lebens auf die Gehirnentwicklung auswirken. Sie fanden heraus, dass Traumata mit einer verringerten Dicke der Kortikalis einhergehen, kurzum die Hirnrinde schrumpfen lassen. Die dünnere Hirnrinde werteten die Forscher als Zeichen des Alterns, weil die Hirnrinde mit zunehmendem Alter dünner wird.

Missbrauch im Stirnbereich

Die Wissenschaftler machten eine weitere erstaunliche Entdeckung: Die verschiedenen Arten der Kindheitstraumata ließen die Hirnrinde in verschiedenen Bereichen schrumpfen. Missbrauch und Trauma und Gewalt führten der Studie zufolge dazu, dass sich die Hirnrinde im Stirnbereich, im ventromedialen präfrontalen Kortex ausdünnte. Dieser Bereich des Gehirns ist an der sozialen und emotionalen Verarbeitung beteiligt.

Körperliche oder psychische Vernachlässigung hingegen führt eher zu einer verdünnten Hirnrinde im Bereich des sogenannten Ruhezustandsnetzwerks. Dieses Netzwerk bezeichnet eine Gruppe von Gehirnregionen, die beim Nichtstun aktiv werden und beim Lösen von Aufgaben deaktiviert werden. Sie sind an der sensorischen und kognitiven Verarbeitung beteiligt.

Schwerwiegende Folgen für Gesundheit im Erwachsenenalter

Das beschleunigte Altern könnte ursprünglich von nützlichen evolutionären Anpassungen herrühren, erklärte McLaughlin. In einer gewalttätigen und bedrohlichen Umgebung erhöht zum Beispiel ein früheres Erreichen der Pubertät die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sich reproduzieren, bevor sie sterben. Eine schnellere Entwicklung der Hirnregionen, die bei der Verarbeitung von Emotionen eine Rolle spielen, könnte zudem Kindern helfen, Bedrohungen zu erkennen und darauf zu reagieren. Damit seien sie in gefährlichen Umgebungen sicherer aufgehoben. "Doch diese einst nützlichen Anpassungen können im Erwachsenenalter schwerwiegende Folgen für die psychische Gesundheit haben", erklärt McLaughlin.

Frühes Eingreifen notwendig

Die Studie unterstreicht die Notwendigkeit eines frühzeitigen Eingreifens, um diese Folgen zu vermeiden. Alle Studien befassten sich mit der beschleunigten Alterung bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. "Die Tatsache, dass wir so konsistente Beweise für ein schnelleres Altern in einem so jungen Alter sehen, lässt vermuten, dass die biologischen Mechanismen, die zu gesundheitlichen Ungleichheiten beitragen, sehr früh im Leben in Gang gesetzt werden. Das bedeutet, dass die Bemühungen zur Verhinderung dieser gesundheitlichen Disparitäten auch in der Kindheit beginnen müssen", sagte McLaughlin.

Können Therapien die biologische Alterung wieder verlangsamen?

Es gibt zahlreiche Behandlungen, die die psychische Gesundheit von Kindern, die ein Trauma erlebt haben, verbessern könnten, erklärte McLaughlin. "Ein kritischer nächster Schritt ist die Feststellung, ob diese psychosozialen Interventionen in der Lage sein könnten, das beschleunigte biologische Altern zu verlangsamen. Wenn dies möglich ist, können wir vielleicht viele der langfristigen Folgen von Kindheitstraumata verhindern", sagt sie.

Maria jedenfalls war letzten Sommer sechs Wochen für eine stationäre Therapie in einer Klinik. Als sie wieder kam, hatte sie etwa acht Kilogramm zugenommen. Sie wog jetzt nicht mehr 44, sondern wieder 52 Kilogramm. Ihr Knochen ragten jetzt auch nicht mehr allzu spitz aus Schultern und Becken hervor. Und sie hatte auch auf einmal wieder Kraft zum Lachen. Vielleicht schaffen wir es ja doch ans Meer.

Link zur Studie

Die Studie "Biological Aging in Childhood and Adolescence Following Experiences of Threat and Deprivation: A Systematic Review and Meta-Analysis" können Sie hier als pdf (englisch) lesen.

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