Freitag, 02.06.2023: Schäm' dich
Der Hosenstall war den halben Tag offen. Und ich hab es nicht gemerkt. Mir wird ganz heiß, die Hände schwitzen. Wer das Gefühl hat, gegen Normen oder Ideale verstoßen zu haben, schämt sich. Ab etwa drei Jahren sind Menschen dazu in der Lage. Ich sehe das bei meinen jugendlichen Kindern: Wer cool ist und wer nicht - das wird durch Beschämung kreiert. Ich wünsche ihnen manchmal, sich unabhängiger zu machen von den Maßstäben der anderen. Und tatsächlich können sich manche Menschen eine gewisse Schamlosigkeit antrainieren.
In früheren Zeiten haben eher die Gutbetuchten die Armen beschämt: hämische Bemerkungen, sinnlose Befehle, Strafen. Heute ist es manchmal anders herum. Prominente, Firmenchefs, Politiker erleben Shitstorms und Beleidigungen, denen juristisch nur manchmal beizukommen ist.
Auch Jesus hat hin und wieder nach oben ausgeteilt und die ehrbare Schicht der Gelehrten im alten Israel mit seinen Provokationen beschämt. An anderer Stelle fordert Jesus seine Anhänger dazu auf, auf alle persönlichen Reichtümer zu verzichten. Damit nimmt er echte Turbulenzen in einem Wertesystem in Kauf, das mit Kategorien wie Ehre und Schande Hierarchien erzeugt und Abhängigkeiten erhält.
Aber Jesus selbst wird auch beschämt. Kurz vor seinem Tod. Und mit ihm seine Anhänger. Aus Kindertagen kann auch ich mich noch an gezielte Provokationen von Lehrern und Mitschülern erinnern. Religion, Glaube, das sei doch etwas von vorgestern. Doch dessen, was ich selbst als hilfreich und tragend im Leben kennengelernt habe, muss ich mich nicht schämen. Umso schöner, dass Menschen immer wieder unverhofft erleben, dass etwas von Jesu Ideen für diese Welt sie berührt. Manchmal hilft das auch, selbst über einen peinlichen Moment hinwegzusehen.