Donnerstag, 23.05.2024: Kintsugi
Sagt Ihnen der Name "Kintsugi" etwas? Es ist eine japanische Kunstform, die es etwa seit dem 16. Jahrhundert gibt. Bei dieser Kunst werden zerbrochene Gefäße mit einem Gold enthaltenden Lack wieder zusammengeklebt. Das führt dazu, dass die Bruchkanten nicht etwa diskret kaschiert werden, sondern überdeutlich golden sichtbar werden.
Hinter dieser Kunstform steckt eine Philosophie: Die Wertschätzung des Fehlers. Dieser Gedanke lässt sich eins zu eins auf das menschliche Leben übertragen. Natürlich sind Rückschläge, Verletzungen und biographische Brüche nichts, was man dezidiert anstreben sollte. Aber sie geschehen.
Ich kann, wenn sie denn da sind, versuchen, sie zu kaschieren, schön zu reden oder zu leugnen. Das ist aber in aller Regel ein mühsames und wenig erfolgreiches Unterfangen. Oder aber ich stehe zu ihnen und integriere sie in mein Leben.
Die Technik des Kintsugi führt nicht nur dazu, dass zerbrochene Gefäße wieder nutzbar werden. Durch die individuelle und golden markierte Klebetechnik entstehen selbst aus Massenprodukten Unikate. Vielleicht sind es gerade die Brüche in meinem Leben, die mich einmalig machen.
Auch der christliche Glaube kennt diese Tradition der Wertschätzung des Fehlers und der erlittenen Verletzungen. Vielleicht haben Sie schon mal in einer Kirche den Auferstandenen Jesus gesehen. An seinem Körper sind nach wie vor seine Verletzungen zu sehen. Er ist zwar auferstanden, erlöst, aber das Vergangene, die Verletzungen, gehören weiterhin zu ihm und machen ihn so besonders, unverwechselbar. Vielleicht gerade in dieser Zeit, in der von uns allen viel Leistung und Perfektionismus verlangt wird, kann die Kultur der Fehlerfreundlichkeit bei uns selbst, aber auch bei den anderen ein wenig Entspannung und Frieden schenken.
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