Dienstag, 23.07.2024: Wenn alle Stricke reißen
"Wenn alle Stricke reißen" - das war einer der Sprüche, die meine Großmutter oft auf den Lippen hatte. Also, falls Plan "A" nicht funktioniert, muss es Plan "B" geben. Jedenfalls geht’s weiter. Davon war sie überzeugt. Und weil sie immer positiv gestimmt war, traf das auch vielmals so ein.
"Wenn alle Stricke reißen, Junge, und tatsächlich Sonntagnachmittag am Waldparkplatz kein Bus fährt, laufen wir einfach los. Irgendjemand wird uns schon mitnehmen." Ich war damals 12 und sie 82 Jahre alt. Wir sind in einem kleinen Waldstück, etwa 10 km vom ihrem Wohnort entfernt, unterwegs gewesen.
Ein Auto besaß Großmutter nicht. Autos waren damals auch seltener auf der Straße zu sehen als das heute der Fall ist. Da konnte man uns also auf der Chaussee laufen sehen, Oma und Enkel. Und dann rollte tatsächlich ein alter 311er Wartburg Kombi heran.
Vielleicht erinnern Sie sich: Zweifarbig. Mit gelblich getöntem Schiebedach und verchromten Radkappen, die leicht gewölbt, wie Frisbeescheiben, über´m Radmutterkranz glänzten. Oma hielt den Daumen raus und der Wagen an. Die Tramperin samt Anhang durfte einsteigen. "Glück gehabt!" - meinte ich. Sie sagte darauf: "Auch wenn alle Stricke reißen, find´sich trotzdem ein Weg!"
Oft kommen mir sowohl der Spruch als auch die lebensfrohe Art meiner Großmutter in den Sinn. Gern hätte ich mehr davon geerbt. Beim Blick auf mein Leben sehe ich, dass mancher Strick gerissen ist. Und der eine oder andere Knoten hält großen Belastungen nicht stand. Meist gerade so zurechtgeflickt.
Trotzdem ging´s weiter. Manchmal anders als geplant, hin und wieder auch anders als erhofft. Aber es gibt kein Stehenbleiben. Genau wie damals auf dem Waldparkplatz. Der, der uns im Auto mitgenommen hat, war doch ein Engel. Einen Engel wünsche ich uns - nicht nur dann, wenn alle Stricke reißen.