Mittwoch, 03.07.2024: Uwes Vater
Uwes Vater hatte ein "appes" Bein. So redeten wir als Kinder. Immer wenn ich zu Uwe zum Spielen kam, führte uns der Weg an der Werkstatt von Uwes Vater vorbei. Als Invalider konnte er wohl keiner Arbeit mehr nachgehen, werkelte aber als Tischler zwischen Holzlatten und Brettern, Keilen und Scharnieren. Immer roch es nach gelagertem Holz und Leim. Wenn Uwes Vater lief, zog er das Bein nach. Er trug fast immer einen Blaumann. Wie es aber unter seinem Hosenbein aussah, erschloss sich mir erst, als eine ausrangierte Beinprothese inklusive Anschnallvorrichtung auf dem Holzstapel in der Werkstatt lag; fast, als wollte er das alte Holzbein weiterverarbeiten. Wir fragten nichts. Er sagte nichts. Nur wenige Worte mit oberschlesischem Dialekt. Wie viele seiner Jahrgänge blieben die Kriegserlebnisse eingeschachtelt und versenkt in der Tiefe wie in einer Holzkiste.
Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Gott aber sieht das Herz an. So heißt es in der Bibel. Ob er sich geschämt hat, weil er sich fast immer in der Werkstatt verkroch? Wütend war, als er das Holzbein auf den Stapel gekracht hatte? Glücklich, dass er am Leben war und seine Familie hatte, sogar ein eigenes Haus? Dennoch nicht ganz zu Hause in dieser niedersächsischen Welt nach der Umsiedlung aus dem Osten? Ich weiß es nicht.
Als Kind ist einem das egal, aber die Eindrücke bleiben, die man von damals mitnimmt. Auch wenn er schon lange verstorben ist, wünsche ich Uwes Vater und mir und allen, die jetzt oder später einmal gesundheitlich eingeschränkt sind, den Glauben des Apostels Paulus. Irgendeine Krankheit hatte der auch. Er spricht von einem Stachel im Fleisch, den Gott ihm gesetzt hat. Er konnte glauben, dass er gerade darin in engster Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Jesus lebt.
Vor kurzem erzählte eine Frau in einem Zeitungsbericht von einem ausrangierten Kruzifix, das sie im Keller gefunden habe. Vielleicht auf einem Holzstapel. Jesus hatte ein "appes" Bein. Sie konnte es nicht wegwerfen; gerade dieses Kreuz nicht.
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