Donnerstag, 04.07.2024: Statement einer Kleinstadt
Das Hochhaus in der niedersächsischen Kleinstadt wirkte schon immer wie ein Statement. Mit seinen zehn Stockwerken überragt es alle anderen Gebäude des Ortskerns um ein Vielfaches. Die nahliegende katholische Kirche machte sich mit ihrer Turmhaube noch nie groß. Meine Taufkirche in der Altstadt war mit der prägnanten Turmspitze über Jahrhunderte Blickfang, wenn man vom umliegenden Mittelgebirge auf den Stadtkern schaut. In den 70er-Jahren verschob dann das Hochhaus die Symmetrie dieses Anblicks exzentrisch. Ein Geldinstitut konnte es sich leisten, darin zu residieren, wirkte als Investor für die Stadt und schuf Raum für Büros und Arztpraxen.
Die Kirchen haben an Dominanz verloren. Auch wenn sie noch immer einer der größten Arbeitgeber sind, mit ihren diakonischen und caritativen Werken wesentlich soziale Netzwerke für die Gesellschaft zur Verfügung stellen und kulturelles Leben wie kaum eine andere Institution prägen. Die Bedeutsamkeit des Glaubens aber ist deutlich geschwunden.
Das Hochhaus in der Kleinstadt ist für mich ein Symbol dafür, dass andere Werte als religiöse höhere Beachtung erfahren. Das begann in den 70-er Jahren und hat auch zu einer Befreiung von Bevormundung durch die Kirchen geführt. Das ist gut so. Bemerkenswert ist, dass das Hochhaus in der Kleinstadt in den letzten Jahren leer stand. Ein Abriss drohte. Jetzt wurde es renoviert, aber es scheint nicht einfach zu sein, es mit neuem Leben zu füllen. Welches gesellschaftliche Statement möchte die Kleinstadt mit diesem Gebäude für unsere Zeit abgeben? Die Banken sind kleinlaut geworden. Ein Familienzentrum soll entstehen. Büroräume, falls die Mieten nicht zu hoch ausfallen. Arztpraxen, falls es genug Mediziner gibt, die sich in eher ländlicher Umgebung niederlassen wollen. Das Hochhaus fragt: Was braucht ihr? Wofür seid ihr bereit, euch zu engagieren? Was wollt ihr hochhalten?
Auch wenn den Kirchen kaum noch zugetraut wird, diese gesellschaftlichen Fragen zu moderieren, bin ich froh das der spitze Turm meiner Taufkirche zur Einkehr einlädt. Ihre Türen waren offen, als ich neulich wieder da war. Zeit zur Besinnung für mich allein an meinem Taufstein und für alle, die in der Stadt unterwegs sind.
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