
Interview mit Eric Stehr Queer in der Provinz: "Natürlich könnte ich in die Großstadt abhauen"
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30. April 2025, 04:00 Uhr
"Natürlich könnte ich in die Großstadt abhauen, aber ich will hier etwas bewegen", sagt Eric Stehr. Der 23-Jährige ist schwul und kämpft in Weißenfels gegen einige Widerstände, als er 2023 den ersten CSD im Burgenlandkreis organisiert. Gerade weil er weiß: "Viele Leute in meinem Umfeld haben Angst." Warum er sich entschied, etwas dagegen zu unternehmen, wie sein Coming Out war und weshalb er nicht nur Posts von Donald Trump Besorgnis erregend findet, darüber spricht er im Interview und in der Doku "Queer in der Provinz", ab jetzt in der ARD Mediathek.
Wer die Stadt mit der Bahn erreicht, sieht auf der einen Seite erstmal eine beeindruckende Industrieruine, das alte Textilkontor, wo zu DDR-Zeiten Filz für Hausschuhe und die Werftindustrie produziert wurde und auf der anderen Seite in der Ferne das riesige barocke Schloss, beides Denkmale. Was ist Weißenfels in der Gegenwart für Dich?
Eine schwierige Frage. Also die Neustadt, da wo das Textilkontor steht, da leben viele Menschen mit Migrationshintergrund, das Viertel wird oft schlechter geredet als es ist. Es ist multikulturell, das hat so ein bisschen was von einer Großstadt. Und auf der anderen Saale-Seite, da liegt der Herrmannsgarten, da haben wir letztes Jahr als "Stadt.Raum-Initiative" ein Straßenfest gemacht. Das Viertel gilt auch als schwierig, liegt mir aber am Herzen. Ich studiere ja Stadtplanung und finde die Bausubstanz da sehr schön. Das Bauliche macht eine Stadt aus und natürlich die Menschen, die da leben.
Was heißt queer?
Laut der Journalistin und Aktivistin Leonie Löwenherz umfasst der Begriff "queer" nicht nur eine sexuelle Orientierung, sondern steht für eine Community mit einer bestimmten politischen Haltung.
Queerness ist heute ein bewusster politischer Begriff. Genau hier liegt der Unterschied: Queer zu sein bedeutet nicht nur, nicht-heterosexuell zu sein, sondern sich aktiv für die Rechte der LGBTQIA+-Community einzusetzen.
Was heißt LGBTQ?
Das Akronym (Kurzwort aus Anfangsbuchstaben) kommt aus dem Englischen und steht für: Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender. Oftmals wird der Begriff um ein + oder weitere Buchstaben ergänzt, zum Beispiel: LGBTQIA, also Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual, Queer, Intersex, Asexual.
Du bist in Weißenfels groß geworden und sprichst im Film davon, dass es schon reichte, mit schwarz lackierten Fingernägeln rumzulaufen, um aufzufallen und Sprüche zu kassieren ...
Ja, nach dem Abi wollten eigentlich alle aus dieser Stadt raus. Ich kenne nur ganz wenige Leute aus meiner Stufe, die da geblieben sind. Ich habe noch während des Abis 2019 Wahlkampf für Die Partei gemacht, erfolgreich erstaunlicherweise. Und dann habe ich für mich gedacht: 'Okay, meine Jugend in dieser Stadt war öde, trist und langweilig. Ich nutze die Chance des Stadtratsmandats jetzt, ich nehme das an (Anm. d. R.: derzeit sitzt Eric Stehr für die Linke im Stadtrat von Weißenfels). Ich will diese Stadt ein bisschen besser machen.' Und das funktioniert so Stück für Stück, über den Stadtrat oder auch über die "Stadt.Raum-Initiative", die ich 2022 mitgegründet habe.
Die Initiative erregte Aufsehen, mit der "Küche für alle", in der es aller zwei Wochen eine Mahlzeit kostenfrei oder gegen eine Spende gibt, mit Pflanz- und Kunstaktionen – und mit der Organisation des 1. Christopher-Street-Day (CSD) 2023. Für dein Engagement hast du den Ehrenamtspreis vom Land bekommen, für das "beeindruckende Beispiel, wie Gemeinsinn funktionieren kann". Nun war der erste CSD in Weißenfels kein Selbstläufer. Wie kam es dazu? Du hättest ja auch nach Leipzig oder Berlin fahren können, um bei einem CSD entspannt zu feiern ...
Mein Motiv war zu sagen: 'Hey, ich fühle mich hier als queere Person in dieser Stadt nicht sicher, aber ich will anderen vermitteln, dass es Gleichgesinnte gibt. Ich hatte schon immer Lust, einen CSD zu organisieren. Also habe ich über Instagram gefragt, wer mithilft. Wir waren dann fünf, sechs Leute, für uns war das Neuland. Was die Organisation angeht, bedeutet ein CSD mit Ständen und Bühne ja deutlich mehr Absprachen als eine Demo.
Anfangs war der Ort noch unklar. Klar war, es braucht keine drei CSD im Burgenlandkreis, der nach der Einwohnerzahl vielleicht ein Viertel so groß ist wie Leipzig. Also veranstalten wir einen, wir brauchen die geballte Kraft. Denn dass der Protest groß sein wird, das wussten wir schon vorher, einfach weil der Burgendlandkreis ein spezielles Umfeld ist.
Klar war auch, dass wir auf jeden Fall einen politischen CSD machen, unkommerziell und ganz anders als die großen Veranstaltungen zum Beispiel in Berlin oder Köln, wo auch verschiedene Firmen mitlaufen mit ihren Wagen. Wir legen Wert auf eine kämpferische Perspektive, denn am Ende ist ein CSD nicht nur buntes Fahnen-Schwingen, sondern bedeutet, sich einzusetzen für Gleichberechtigung und Akzeptanz.
Dass es dann Angriffe auf den ersten CSD 2023 in Weißenfels gab, das ist eine andere Geschichte, auf jeden Fall haben wir damit ein Zeichen gesetzt.
Trotz der Erfahrung gab es 2024 eine Neuauflage in Zeitz, offenbar in einer ganz anderen, gelösten Atmosphäre.
Die Rahmenbedingungen waren ganz andere, durch die Unterstützung von Seiten der Stadt, den Oberbürgermeister, die lokale Kulturszene, es gab auch eine ganz andere Polizeipräsenz beim Christopher Street Day in Zeitz. Es war der schönste CSD, den ich erlebt habe. Das haben auch andere Leute so gesagt, die zu verschiedenen Veranstaltungen fahren, um die Community vor Ort zu unterstützen. Fast 700 Menschen haben da friedlich gefeiert. Die Resonanz hat mich sehr gefreut.
Wir wollen mit so einem CSD ja zeigen, es gibt queeres Leben auf dem Land. Das soll dann auch ausstrahlen. Deswegen wird ja mindestens einen Monat vorher die Werbetrommel gerührt und eine Regenbogenflagge in der Stadt gehisst. In Zeitz wurde sie dann gestohlen, weil sie zu niedrig hing.
Dabei soll damit ja niemandem etwas aufgezwungen werden, es geht darum zu zeigen: Es gibt Menschen, die immer wieder vergessen werden oder die nicht sichtbar sein dürfen.
Wie verlief dein Coming Out in der Provinz?
Meine Eltern konnten damit nicht viel anfangen, sie haben es hingenommen. In der Schule, in meinem engeren Umfeld war das nicht so ein großes Thema. Klar, man hat sich natürlich ein bisschen in Acht genommen, weil man die rechtsradikale Szene in der Stadt kennt.
Dass Queerness im öffentlichen Raum in Weißenfels kein Thema war, war für mich aber ein Grund zu sagen: Es braucht einen CSD. Wir wollen damit zeigen: 'Das gibt es auch hier.' Und ein Gedanke war auch, damit mal ein kulturelles Angebot für junge Leute zu schaffen mit Bands usw.
Dabei sind wir mehr als eine bunte Feiertruppe. Es geht uns auch um politische Forderungen, etwa für mehr ÖPNV, die alle gerade auf dem Land betreffen. Das war mir am Anfang selbst vielleicht gar nicht so bewusst: Dass es eine Veranstaltung ist für alle, da kann man hingehen, ob man jetzt queer ist oder nicht.
Auch in Zeitz gab es eine kleine Intervention von Störern, wie man im Film sehen kann. Als Versammlungsleiter machst du ihnen eine Ansage und eilst davon ... Du wolltest den US-amerikanischen Generalkonsul in Leipzig, John R. Crosby, begrüßen, der auf dem CSD dazu sprach, warum er die queere Community unterstützt. Klingt, wie aus einer anderen Ära, oder? Inzwischen droht dem Konsulat womöglich die Schließung und Großunternehmen säubern ihre Websites von Richtlinien zu Diversität und Inklusion.
Dass da jetzt US-amerikanische Firmen mit auf den Trump-Zug aufspringen und ihre Diversitätsprogramme kippen und auch europäische Unternehmen unter Druck gesetzt werden, ist schon kritisch. Und wir haben mit Friedrich Merz einen zukünftigen Kanzler, der natürlich kein Trump ist, aber auch nicht gerade für den Kampf um Queer-Rechte oder Gleichberechtigung steht.
Generell lässt sich beobachten, wie in Zeiten der Krise die Schuld an vielen Problemen immer wieder auf Minderheiten geschoben wird, seien es Migrant:innen oder queere Personen. Gerade wurde mir auf Social Media ein Post von Jan Josef Liefers hereingespült, wo er in etwa sagt: 'Wir haben Pronomen und Diversität, aber keine Wohnungen.' Was hat das miteinander zu tun?
Also lasst die Leute doch einfach leben und baut mehr Wohnungen. Es werden immer wieder die Minderheiten ausgespielt. Da bin ich als schwuler weißer Mann noch in einer privilegierteren Rolle als andere, aber auch ich spüre das natürlich.
Du machst Dir Sorgen ...
Ich bin aufgewachsen in einer ganz anderen Phase, in der beispielsweise 2017 die Ehe für alle legal wurde. Die Stimmung jetzt ist eine andere. Ja, ich mache mir große Sorgen. Beispielsweise um die Finanzierung von Demokratie-Projekten, darum dass alles, was Vielfalt und Inklusion förderlich ist, auf der Strecke bleibt.
Wie sieht es mit dem nächsten CSD im Burgendlandkreis aus, der im August in Naumburg stattfinden soll?
Da kann ich jetzt leider keine Auskünfte zu geben, ich hatte schon nach dem CSD in Zeitz entschieden, dass ich mich aus der Organisation zurückziehe, einfach weil so ein Projekt sehr Kräfte zehrend ist und ich mit meinem Studium in Weimar vorankommen muss. Die Leute, mit denen ich den CSD in den letzten beiden Jahren gemacht habe, sind jetzt gut im Thema. Das, was ich mitkriege, ist, dass es gut läuft.
Ich hoffe, die Atmosphäre wird so sein wie in Zeitz. Dort hat man erkannt, wenn so eine Veranstaltung gut abgesichert ist, dann ist das auch gut fürs Image der Stadt. Wenn jemand Fachkräfte anwerben möchte, dann gehört zum Aushängeschild, wie eine Stadt oder Region mit Minderheiten umgeht, ob das nun migrantische, queere oder behinderte Menschen sind. Ich persönlich würde als Person, die jetzt Planung studiert und damit viele Möglichkeiten hat, sicherlich nicht in eine Stadt ziehen, wo ich denke: 'Ja, zum Arbeiten bin ich gut genug, aber sonst bin ich als Mensch wertlos.'
Woher kommt dein Selbstbewusstsein?
Das zu entwickeln, ist ein Prozess. Das geht, glaube ich, allen Queers so. Entweder man flieht aus der Stadt oder dem Dorf, aus dem man kommt, oder man härtet ab und steht das irgendwie durch. Wobei die Kommentare nicht spurlos an einem vorbeigehen.
Ich komme ja ursprünglich aus einem kleinen Dorf mit 60 Leuten. Trotzdem bin ich da progressiv aufgewachsen. Da lebten auch Menschen mit Migrationshintergrund, mit den Kindern zu spielen, das war für mich Alltag und hat mir früh vermittelt: Es gibt Menschen, die haben es schwerer als ich.
Bleiben oder Gehen – das ist die Frage, sagst du im Film. Inzwischen bist du für die Linke im Stadtrat aktiv und für die nächste Legislatur bis 2029 gewählt. Hast du dich also entschieden?
Es gibt auch heute noch Situationen, wo ich mir sage: 'Bloß weg hier.' Aber durch das Ehrenamt, das ich auf verschiedenste Weise ausübe, ist Weißenfels auch Heimat geworden. Hätte ich meinem 17-jährigen Ich gesagt, dass ich noch so lange in dieser Stadt hängen werde ... Ich will bis zum Sommer meine Bachelor-Arbeit für die Uni in Weimar schreiben und mich dann umschauen, wo ich weiter studiere. Aber ja, mein Mandat will ich erfüllen. Auch wenn ich mal der CSD-Organisator war, bin ich nicht nur abonniert auf queere Themen, ich will mich kümmern um soziale Belange von Menschen egal, woher sie kommen und wen sie lieben.
Das Gespräch führte Katrin Schlenstedt, MDR Religion und Gesellschaft
Dieses Thema im Programm: MDR+ | 30. April 2025 | 16:39 Uhr