Flucht Ukraine und Syrien: Die EU-Migrationspolitik 2022 im Jahresrückblick
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22. Dezember 2022, 05:00 Uhr
Millionen Menschen sind 2022 vor dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine nach Europa geflohen – genau wie Tausende aus anderen Ländern der Welt. Angesichts der Zahlen sehen nicht wenige europäische Politiker bereits eine neue "Migrationskrise" aufziehen. Denn viele Länder geben an, dass ihre Aufnahmekapazitäten erschöpft sind.
- Die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Europa flüchten, ist 2022 stark gestiegen.
- Die stark betroffenen Mittelmeer-Anrainerstaaten fordern eine gesamteuropäische Lösung.
- Auch 2023 ist nach Ansicht der Grenzschutzagentur Frontex wieder mit vielen Geflüchteten zu rechnen.
Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt eine völlig neue Seite der EU. Nur wenige Tage nach dem 24. Februar einigten sich die 27 Mitgliedsstaaten, die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie zu aktivieren, um Vertriebenen unbürokratisch einen Schutzstatus, medizinische Versorgung sowie Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten bereitzustellen.
Millionen Geflüchtete aus der Ukraine machten davon Gebrauch, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson im Oktober. Auf der Grundlage dieser Richtlinie hätten 4,3 Millionen Menschen in der EU Schutz gefunden. Johansson zufolge besuchen 670.000 ukrainische Kinder Schulen in den EU-Mitgliedsstaaten. Das sei etwas, worauf man stolz sein könne, sagte die Innenkommissarin.
Das sieht der EU-Außenbeauftrage Josep Borrell genauso. Die Situation stelle sich heute völlig anders da, als 2015 bei den 1,5 Millionen syrischen Kriegsflüchtlingen. Borrell zeigt sich aber auch kritisch: "Diese Unterscheidung führt uns zu der Frage, ob wir in unserer Migrationspolitik doppelte Standards haben. Warum behandeln wir Schutzsuchende, die blond, blauäugig und Christen sind anders als Muslime oder Afrikaner?"
Zunahme an Migrationsbewegungen
2022 versuchten wieder deutlich mehr Menschen aus Afrika und anderen Weltregionen in die EU zu kommen. Piotr Switalski, Sprecher der Grenzschutzagentur Frontex, sagte, in den ersten elf Monaten dieses Jahres seien an den Außengrenzen der Europäischen Union mehr als 308.000 "irreguläre Einreisen" festgestellt worden. Dies entspreche einem Anstieg von fast 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum und sei der höchste Wert seit 2016.
Die meisten Menschen kommen nach wie vor über das östliche und zentrale Mittelmeer und vor allem über die Westbalkanroute. Registriert werde da kaum jemand, klagt Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer. Es gäbe eine Art "Asyltourismus", unter dem sein Land besonders leide: "Österreich ist mehr als belastet. Wir haben über 100.000 Asylanträge – und über 75.000 derer, die diese Anträge stellen, sind nicht registriert." Nehammer zufolge überschritten diese 75.000 Menschen die Außengrenzen der Europäischen Union, durchquerten-EU-Mitgliedsstaaten und würde dann erst in Österreich aufgegriffen. Das sei ein Sicherheitsproblem und das müsse gelöst werden.
Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration der Vereinten Nationen sind bei der Migration nach Europa seit 2014 mehr als 29.000 Menschen ums Leben gekommen. Allein von 2021 bis Oktober 2022 habe es mehr als 2.800 Tote und Vermisste auf der Route über das zentrale Mittelmeer gegeben. Die Organisation forderte angesichts der Todeszahlen mehr legale und sichere Wege der Migration.
Italien und Spanien drängen auf Unterstützung
Angesichts der rasant steigenden Flüchtlingszahlen könnten das die Länder an den Außengrenzen allein nicht schaffen, sagt Fernando Grande-Marlaska. Er ist Innenminister Spaniens, das als Mittelmeer-Anrainer besonders belastet ist und betont, die Herausforderung der "irregulären Migration" liege nicht allein in der Verantwortung von uns Ländern an den Außengrenzen. Es sei die Aufgabe der gesamten EU, das müsse allen klar sein.
Es ist die Aufgabe der gesamten EU, das muss allen klar sein.
Die EU-Kommission versucht deshalb mit immer neuen Aktionsplänen die Situation in den Griff zu bekommen. Man will eine bessere Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern, eine gerechtere Lastenverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten, effektivere Grenzschutzmaßnahmen oder neue Regelungen für die Seenotrettung.
EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sagte, "wir können eine Menge Aktionspläne machen, die sind auch wichtig. Aber ohne die Umsetzung des gesamten Migrations- und Asylpakets werden wir das Problem nicht lösen, denn wir brauchen einen generellen Rahmen für unsere Migrations- und Asylpolitik."
Migration: Großes Thema für 2023
Vor allem weil sich am allgemeinen Trend im kommenden Jahr kaum etwas ändern werde, sagt Frontex-Sprecher Piotr Switalski. Möglicherweise wird die Westbalkanroute nicht mehr so stark frequentiert sein, da weniger Menschen über die Türkei nach Griechenland kommen, und auch der Weg über Serbien in die EU schwieriger wird. Grund ist Switalski zufolge, dass Serbien Ende November seine Visaregelung eingeschränkt hat. Das werde die Zahl von illegalen Grenzübertritten in den kommenden Monaten voraussichtlich verringern. Aber auf Grund geopolitischer Entwicklungen aber auch aus Gründen des Klimawandels ist nach Switalskis Ansicht auch 2023 mit einem "hohen Migrationsdruck" zu rechnen.
Das Thema Migration und Asyl wird im kommenden Jahre zu den größten Herausforderungen gehören, denen sich die Europäische Union stellen muss. Bereits am 9. und 10. Februar wollen die EU-Staats- und Regierungschefs deshalb bei einem Sondergipfel das weitere Vorgehen beraten, um die illegale Migration einzuschränken.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Exakt | 19. Oktober 2022 | 20:48 Uhr